Schattenelf - 4 - Feuerzauber
»Ich weiß«, sagte sie. »Ich wusste es auch, gleich vom ersten Augenblick an, als wir uns in Ashwarawus Lager begegneten.«
Sie zog ihren Finger zurück, doch Pagonel sprach nicht weiter. Er saß einfach da und betrachtete sie – und sie ihn.
In diesem Augenblick hätte Pagonel nichts lieber getan, als sie zu küssen, doch er tat es nicht. Er hielt sich zurück und ermahnte sich, dass er schließlich doppelt so alt war wie Brynn.
Auch Brynn hätte ihn in diesem Augenblick am liebsten geküsst, aber sie war nicht beherzt genug, um diesen Schritt auf eine andere Ebene der Intimität von sich aus zu wagen, auch wenn körperliche Intimität im Grunde nie etwas anderes für sie sein konnte als eine Erweiterung der gefühlsmäßigen Intimität, die bereits seit vielen Monaten zwischen ihnen bestand. Es herrschte eine so harmonische geistige und seelische Ausgewogenheit zwischen ihnen, dass ihr der Altersunterschied fast gleichgültig war.
Aber Pagonel blieb zurückhaltend, und Brynn, so unschuldig und unwissend in Dingen körperlicher Intimität, wagte nicht, den ersten Schritt zu machen.
Sie blieben mit Nesty bis zum späten Nachmittag auf der Wiese, dann stiegen sie gemeinsam die lange Treppe hoch, zurück zur Wolkenfeste, zu Pagonels Heim und Brynns willkommener Zuflucht.
3. Erleichterung durch Verzicht
Yakim Douan war ziemlich überrascht, als er erfuhr, der Chezhou Kaliit, Meister des gleichnamigen Kriegerordens, sei nach Jacintha gekommen, um ihn zu sprechen. Denn obwohl die Chezhou-Lei den Yatol-Priestern treu ergeben waren, ihnen als Leibwächter dienten und sich sogar als lebender Schutzschild vor einen auf einen Yatol geschleuderten Speer werfen würden, verließ der Kaliit, ein alter Mann mit breitem Brustkorb namens Thog Timig, nur selten sein viele hundert Meilen von Jacintha entferntes Heimatdorf. Schon sein bloßes Hiersein sagte Yakim Douan, dass etwas Außergewöhnliches im Gange war.
Die Tür des privaten Audienzzimmers öffnete sich einen Spaltbreit, und herein kam Merwan Ma und geleitete den alten, gebeugten Mann in den Raum. Der Kopf des Kaliit war zwischen seine Schultern gesunken, und während sein Oberkörper noch nichts von der Kraft und Wuchtigkeit seiner früheren Jahre als Krieger eingebüßt hatte, waren seine Arme und Beine mittlerweile spindeldürr und wirkten nach einer Vielzahl unterschiedlichster Verletzungen kraftlos und verwachsen. Doch obwohl der Körper des Kaliit erste Anzeichen von Gebrechlichkeit aufwies, in seinen dunkel funkelnden Augen, die eine ungebrochene Lebendigkeit verströmten, war davon nichts zu sehen.
Von dem Moment an, da er durch die Tür trat, fixierte er Douan mit einem durchdringenden Blick, der neben dem gebührenden Respekt auch die ungeheure Willenskraft des Mannes erkennen ließ.
»Seid willkommen, Kaliit Timig«, begrüßte Douan ihn herzlich. »Ich hatte schon befürchtet, keine Gelegenheit mehr zu erhalten, Euch willkommen zu heißen, bevor Yatol einen von uns zu sich ruft.«
Der Kaliit ließ sich steif, aber überaus würdevoll in einen Sessel an der Seite des Chezru-Häuptlings gleiten.
»Lange wird es nicht mehr dauern«, erwiderte er trocken. »Mittlerweile spüre ich das Wüten jedes Unwetters in meinem Körper, lange bevor sich die ersten Wolken am Himmel zeigen.«
Douan nickte verständnisvoll und lächelte. Er hatte keine Ahnung, wie alt der Kaliit tatsächlich war, aber auf jeden Fall war der Mann sehr alt, praktisch schon ein Greis. Thog Timig war gleich zu Beginn von Douans Amtszeit als Chezru-Häuptling in seine Position als Kaliit aufgestiegen, doch während Yakim Douan damals kaum mehr als ein junger Bursche gewesen war, war Thog Timig bereits ein Mann in den besten Jahren gewesen.
»Was Euren Entschluss, mich zu dieser Jahreszeit aufzusuchen, umso rätselhafter macht, muss ich gestehen«, erwiderte Douan einen Augenblick später, als die Stimme Gottes sah, dass der Kaliit ins Nichts zu starren schien.
Der alte Mann drehte bedächtig den Kopf, um den neben ihm sitzenden Mann zu betrachten. »Die Chezhou-Lei werden wie ein Mann marschieren«, erklärte er. »Zum ersten Mal seit dreihundert Jahren werden Krieger aus allen Winkeln von Behren einberufen werden.«
Yakim Douan sah ihn verständnislos an. Wovon redete der Mann überhaupt? Die To-gai-ru waren vor den Toren Dharyans besiegt worden, und zwar endgültig, und in den letzten Monaten war es kaum zu nennenswerten Bewegungen seitens irgendwelcher Möchtegern-Rebellen
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