Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Kuhwiesen, die sie als Kind gekannt hatte. Wild gewachsen mit allerlei Butter-, Gänse, und Pusteblumen. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie Fabio, Klaus und sie selbst am Stadtrand auf solchen Wiesen gespielt hatten.
Drei Türen gingen von der Diele ab. Die Linke öffnete sich und ein hochgewachsener, sympathisch lächelnder Mann um die fünfzig mit wuseligen Haaren und dicker Hornbrille sah sie fragend an. Der Schnauz verdeckte beinahe völlig seine Oberlippe. In seinem gelben Poloshirt zu der schwarzen Jeans vermittelte er einen angenehmen, lockeren und jugendlichen Eindruck auf sie.
„ Dr. Heinzgen?«
„ Genau der bin ich, was kann ich für Sie tun?«
„ Ich hätte gerne einen Termin bei Ihnen, rasch, wenn es geht. Ich zahle gut und was Sie verlangen«.
Unvermittelt begann sie, zu weinen. Der Mann reagierte so gelassen, als erlebe er das stündlich. Normalerweise sahen die Menschen sie verdutzt oder erschrocken an, wenn sie plötzlich losheulte. Laura biss sich auf die Lippen. Diese unverhofft auftretenden Weinkrämpfe bekam sie nicht in den Griff. Entschuldigend lächelte sie den Therapeuten an und verkniff sich ein Schniefen, stattdessen putzte sie sich unter Getöse die Nase mit einem Stofftaschentuch, das sie Gott sei Dank in ihrer Blazertasche gefunden hatte. Im Moment fühlte sie sich, was ihr Vorhaben betraf, erheblich unschlüssig. War sie auch sonst gerne gegen ihren Bruder aufmüpfig wie ein trotziges Kind - das war sie seiner Meinung nach sowieso – mahnte sie ihr Gewissen, diesmal zu folgen und nicht zu viel preiszugeben. Hatte sie nicht erst vor kurzer Zeit völlig anders gedacht? Wollte so viel wie möglich preisgeben. Noch eben im Auto hatte sie geglaubt, so stark zu sein, um einem Therapeuten alles anzuvertrauen. Aber - was wollte sie denn überhaupt erzählen?
„ Bitte nehmen Sie doch einen Moment hier platz, ich bin gleich für Sie da«, bot ihr Dr. Heinzgen einen der Stühle an. Laura folgte brav wie ein Kind und geduldete sich, während ihr Puls schneller schlug. Nachdem sie mehrere Minuten gewartet hatte, verließ eine aufgewühlte, verheulte Frau das Therapiezimmer und eilte, ohne nach rechts und links zu sehen, aus dem Haus. Laura sah ihr interessiert nach. Was hatte der Therapeut mit ihr angestellt?
Dr. Heinzgen bedeutete ihr mit einer Handbewegung, vor ihm das Zimmer zu betreten. Die beiden Fenster standen zur Raumbelüftung offen. Der Therapeut schloss sie und bat sie, sich in den Sessel ihm gegenüberzusetzen. Lauras Augen glitten über die hohen Wände. Allein durch ihren Stuck besaßen sie genügend Ausstrahlung. Eines der wenigen Bilder an den Wänden zeigte Dr. Heinzgen als kleiner Junge. Das Foto hat sicher für ihn eine besondere Bedeutung, überlegte Laura, während sie sich in dem ihr zugewiesenen Korbsessel niederließ. Unter leicht gesenkten Augenlidern folgte sie den Bewegungen des Mannes, wie er sich geschmeidig in den Sessel neben dem Tisch setzte und die Beine übereinanderschlug.
„ Sie haben eben geweint«, begann er. „Das hat mich veranlasst, Sie kurz hereinzubitten, obwohl ich gleich den nächsten Patienten erwarte.«
Also doch eine Reaktion auf meine Tränen. Laura lächelte verlegen. Auf einmal, nur für wenige Sekunden, erwachte in einer verborgenen Ecke ihres Herzens das kleine Kind in ihr. Sie sah sich an die Wand gedrückt und rufen: »Mama!! Ich bin Laura, ich bin Laura, deine Tochter!« Es reichte, um ihre Beklemmung zu verstärken. Ehe sie sich versah, begann sie zu reden, und zwar ohne Punkt und Komma.
„Meine Eltern starben, als ich zwölf war. Ich habe vier Suizidversuche hinter mir und die Auflage, sofort eine Psychotherapie zu beginnen. Ich war in der Klinik und denke längst an die nächste Selbsttötung.« Das war gelogen, aber sie musste ihn ja dahin bekommen, ihr einen zeitnahen Termin zu geben. „Ich mache schlimme und unüberlegte Sachen. Männer kann ich nicht leiden, ich ekle mich vor ihnen.« Sie schüttelte sich als Beigabe.
Der Mann ihr gegenüber hatte interessiert zugehört, zeigte weder Erstaunen, Erschrecken noch sonst etwas Abweisendes. Er hatte sie einfach nur angesehen und ihren atemlos gesprochenen Worten gelauscht. Noch nie hatte jemand ihr derart uneingeschränkte Aufmerksamkeit geschenkt.
„ Ich habe noch eine kleine Schwester ...«, fuhr sie fort, aber bei dem Wort kam sie leicht ins Holpern. „Wir leben alle zusammen in einem idyllisch gelegenen Haus oberhalb Remagens.« Sie machte eine kleine
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