Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
Pause. „Und mein Bruder ist der Boss.«
„ Sind Sie alle nach dem Tod der Eltern in einem Heim aufgewachsen?«, wollte Dr. Heinzgen wissen.
Laura schüttelte den Kopf. „Wir waren bei unseren Verwandten in Italien«, sie schluckte, „eine Zeit lang. Onkel Timo hat gut für uns gesorgt.« Sie bewegte nach dem Satz ihre Schultern, als wolle sie etwas abschütteln.
„ Was ist gerade in Ihnen passiert, dass sie sich schütteln mussten?«, fragte der Therapeut.
„ Nichts«, antwortete sie, dachte, ich lüge schlecht. Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass ihr plötzlich Fabio im Genick sitzt, so heftig, dass sie jetzt unwillkürlich mit der Hand über ihren Nacken rieb. Rasend schnell entstanden in ihrem Kopf sämtliche Bilder ihrer gemeinsamen Italienzeit. Meistens war ihr Bruder in ihrer Kindheit und Jugend liebevoll und fürsorglich zu ihr gewesen, hatte sie beschützt. Wenngleich er auch von einer Sekunde zur anderen einen brutalen Zug an den Tag legen konnte. So, als wenn jemand sagt: Ich liebe dich und im nächsten Augenblick zuschlägt. Genauso war und ist Fabio noch heute. Und die Jahre in Italien hatten ihn dahin gehend noch mehr geprägt. Bei dem nächsten Gedanken musste Laura ein Lächeln unterdrücken. Fabio war immer hübscher geworden, alle Mädchen im Ort liebten und wollten ihn. Und sie war eifersüchtig gewesen. Laura selbst hatte auch ihre kleinen Verehrer gehabt, aber das schob sie sogleich zur Seite. Dieses Kapitel lag im Schatten. Mehr und mehr hatte sie sich der kleinen Schwester zugewandt, auch, wenn es ihr anfänglich schwergefallen war, doch noch heute, so lobte sich Laura im Stillen, kümmerte sie sich hingebungsvoll um Paola.
„ Italien war eine schöne Zeit«, murmelte sie gedankenverloren und erschrak. Was redete sie da? Im Gegenteil, es war entsetzlich gewesen, starkes Heimweh nach Deutschland zu ihrer Mutter hatte sie geplagt, aber Mutter war unerreichbar für sie gewesen – damals. Fabio jedoch war immer mehr aufgeblüht. Ging durch Onkel Timos harte Lebensschule, bekam Aufgaben gestellt, die er stolz erledigt hatte und ihn regelrecht eingebildet werden ließen. Später fuhr er selbst ein dickes Auto wie die anderen, mit denen er Geschäfte machte. Und Geld war immer reichlich vorhanden und großzügig ausgegeben worden. Laura war damals zu jung gewesen, um alles zu kapieren. Sie hatte sich immer nur gewundert und selbst heute als Erwachsene verstand sie nicht, wie alles zusammenlief. Als Dr. Heinzgen nichts sagte, erklärte Laura.
„ Ich hasse meinen Bruder, aber irgendwie liebe ich ihn auch.«
Jetzt, da sie es nicht erwartet hatte, sprach er. Seine Stimme war warm und sanft.
„ Und warum hassen Sie ihn?«
Laura konzentrierte sich auf seine Frage. „Warum ich ihn hasse?«, wiederholte sie langsam, „weil er zu feige ist, allem ein Ende zu setzen.« Ganz bestimmt hatte sie nicht beabsichtigt, etwas Derartiges preiszugeben. Mit rot anlaufendem Gesicht schlug sie eine Hand auf den Mund. „Was erzähle ich hier für einen Blödsinn.«
Dr. Heinzgen sah sie unter seinen buschigen Augenbrauen abschätzend an. Laura wollte nur noch wissen, ob sie jetzt einen Termin bekam. Sie mischte ihrer Frage eine Tonlage bei, aus der herauszuhören war, dass sie wohl reichlich Beindruckendes von sich erzählt zu haben glaubte. Daraufhin lächelte der Therapeut sie an, als wisse er genau, wie er auf ein störrisches Kind reagieren musste. Laura verspürte den Drang, sich ihm in die Arme zu werfen und zu weinen, und erneut öffneten sich die Schleusen ihrer Tränendrüsen.
„ Gegen diese Anfälle kann ich nichts tun«, gestand sie, während sie mit der Zunge die herunterrollenden Tränen einsammelte.
„ Haben Sie das schon lange?«, erkundigte sich Dr. Heinzgen, indessen er in seinem Terminkalender die Seiten umblätterte, um nach einem Datum zu suchen.
„ Ja«, gab sie zu, „gewissermaßen, seit ich denken kann.«
„ Wann war der letzte Suizidversuch?«
„ Anfang April. Nachts. Ich bin vor den Wagen einer Frau gelaufen«, Laura hielt inne, „in Remagen auf der Bundesstraße 9, obwohl ich auf dieser gar nicht sterben wollte, sondern erst später im Wasser des Rheins.« Sie unterbrach sich, denn der Mann hatte den Kopf gehoben, kräuselte die Stirn und seine Augen hinter der Brille wurden größer. Aber er sage nichts. So sprach Laura nach einigen Sekunden weiter. „Sie heißt Anke und ist Journalistin. Mehrmals hat sie mich im Krankenhaus besucht, aber dann nicht mehr. Sie
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