Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
direkt an die Mauerabgrenzung eines der Rheinuferhäuser. Beinahe sämtliche Anrainer standen dicht hinter ihren Gartenzäunen und beobachteten neugierig das Geschehen. Die Polizei begann, das Gebiet abzusperren. Es gelang Anke in diesem Moment, noch rechtzeitig durchzukommen. Ihre kleine Digi-Camera für den Fall griffbereit in der Tasche, sprach Anke alles, was sie sah, auf ihr Diktiergerät.
Links von ihr ragte der erhaltene Brückenkopf der Ludendorffbrücke hervor, die Geschichte geschrieben hatte. Heute Morgen im Schatten des schrecklichen Geschehens fand Anke die beinahe schwarz verfärbten Bruchsteine der Brückentürme finster und bedrohlich, gleich ihrer Aufgabe, für stumme Zeitzeugen des Krieges zu stehen. Einen Augenblick versank sie in das Schauspiel, als am 7. März 1945 innerhalb von vierundzwanzig Stunden 8.000 Soldaten den Rhein überquert hatten. Diese Eroberung war als Wunder von Remagen in die Analen der Kriegsgeschichte eingegangen. General Eisenhower, so erinnerte sie sich, sollte ausgerufen haben: „Die Brücke ist ihr Gewicht in Gold wert!« und befohlen, so viele Divisionen wie möglich herüberzuschaffen. So war es gelungen, vom 7. März bis zum Einsturz am 17. März über die geschwächte aber noch intakte Brücke 18 Regimenter überzusetzen. Als sie am 17. März 1945 wegen Überlastung zusammenbrach, riss sie 28 amerikanische Pioniere in den Tod. 18 liegen noch immer da unten. Sie konnten nie geborgen werden. Anke nahm sich vor, demnächst endlich das Friedensmuseum im Innern der ihr jetzt so bedrohlich empfundenen Brückentürme zu besuchen.
Von ihrer Position aus erhaschte sie einen Blick auf den erhalten gebliebenen Rest des Gleisbettes der Brücke. Es reichte noch ein Stück über den Rhein. Dann huschte sie so nah heran wie möglich, zückte ihre Camera und schoss etliche Aufnahmen von der schäbigen Bank unter dem Gleisbett, auf der die Tote lag und damit auch von den eifrigen weißen Gestalten der Spurensicherung und dem Polizeifotografen, der die Leiche aus allen Perspektiven auf dem Chip verewigte. All diese Personen versperrten ihr die direkte Sicht auf die Bank, die vor dem grauen, teilweise zerbröckelnden Restmauerwerk stand, das unten mit Grünspan und weiter oben mit unansehnlichem Graffiti übersät war. Auf ihren Aufnahmen würde von dem toten Mädchen nicht viel zu sehen sein. Aber immerhin hatte sie die Situation dokumentiert. Ich muss noch näher heran. Mit aufgetragenem Charme sprach sie den Polizisten an, der sie neulich auf der Wache zu dem unseligen Unfall befragte hatte. Er war dabei, die letzte noch zugängliche Stelle abzusperren. Zum Glück erkannte er sie sofort wieder.
„ Oh, die Presse ist auch schon hier!? Da sind sie Gott sei Dank erst die Einzige.«
Anke fackelte nicht lange. „Was wissen Sie?«
„ Noch nicht viel, wir bekamen heute Morgen um sieben Uhr den Anruf eines Spaziergängers, der mit seinem Hund unterwegs war und die Tote fand.«
Anke sah sich um. „Ist er hier irgendwo?«
„ Wird grad von der Kripo Koblenz vernommen.«
Anke hastete unter dem Band hindurch.
„ He!« Der Polizist hielt sie am Arm fest. „Sie können hier nicht weiter.«
Anke lächelte ihn an. „Ich weiß, bitte tun Sie einfach so, als hätten Sie es nicht bemerkt. Ich bin gleich zurück.«
Und weg war sie. Es war nicht korrekt, aber allmählich war sie der Meinung, egal auf welchem Gebiet, dass sie auch ein bisschen Glück verdiente in dieser schweren Zeit des Abnabelungsprozesses von einem geliebten Menschen. Sie mischte sich unter das konzentriert arbeitende Team. Auf Verdacht, ohne genau zu avisieren, hielt sie die Camera auf die sich bietenden Motive, auf die abgedeckte Leiche, die im Blechsarg verschwand und abtransportiert wurde. Und während sie übereifrig in Aktion war, zuckte sie entsetzlich zusammen, da sie glaubte, eine Pranke hätte sich urplötzlich ihre Schulter als Ablage ausgesucht. Erschrocken drehte sie sich um und blickte direkt in ein bekanntes Gesicht. Es hielt beide Augenbrauen in die Höhe gezogen und den Mund zu einem missbilligenden Lächeln verkrampft. Die wachen, blauen Augen, die sie eindrucksvoll in Erinnerung hatte, sahen sie missmutig an.
„ Ich bin mächtig entzückt, Frau Contoli.«
„ Oh, welch eine Freude, Herrn Kriminalhauptkommissar Siegfried Münch von der Koblenzer Kripo hier zu sehen«, gab sie bissig zurück und schielte auf seine Hand, die noch auf ihrer Schulter lag. Daraufhin zuckte sie sogleich zurück.
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