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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Fußgänger, Fuhrwerke und Reiter zogen eilig an ihr vorbei. Links und rechts der Straße boten Kleinhändler ihre Waren feil und hofften, am Hunger der Passanten zu verdienen.
    Dann sah sie, was sie von den belebten Straßen der Stadt aus bisher nur da und dort als dunstigen Streifen am Horizont erblickt hatte: das flache Land, das sich in blassen Winterfarben endlos in die Ferne erstreckte. Und sie sah die Sonne, die an diesem späten Nachmittag gerade so stand, dass man die Ebene für Wasser halten konnte.
    Ein Fuhrmann ließ neben ihr die Peitsche knallen, und Esmenet sprang zur Seite. Ein von fetten Ochsen gezogener Wagen, dessen Lenker ihr ein zahnloses Lächeln zuwarf, ächzte an ihr vorbei.
    Sie sah kurz auf ihre ins Grüne spielende Tätowierung auf dem linken Handrücken – das Brandmal für Frauen ihrer Sorte. Das Zeichen Gierras, obwohl sie keine Priesterin war. Die Büttel des Tempelvorstehers bestanden darauf, dass allen Huren die Karikatur der heiligen Tätowierung der Tempelprostituierten auf die linke Hand gestochen wurde. Keiner wusste, warum. Um sich leichter weismachen zu können, die Götter damit zum Narren zu halten, vermutete Esmenet. Hier draußen vor den Mauern allerdings schien es anders zu sein: Hier schwebten die religiösen Gesetze der Tausend Tempel nicht mehr wie ein Damoklesschwert über ihr.
    Sie überlegte, den Fuhrmann zu fragen, ob er sie mitnehmen könne, ließ ihn aber weiterzockeln und folgte dem Lauf der Straße mit den Augen. Der Weg lief schnurgerade ins Land – wie Mörtel zwischen rauen Ziegeln.
    Ach Gierra, was mach ich nur?
    Die offene Straße. Achamian hatte ihr einmal gesagt, die Landstraße sei ihm wie eine Schnur um den Hals gebunden und würge ihn, wenn er ihr nicht folge. Jetzt sehnte sie sich fast nach diesem Gefühl. Sie konnte sich gut vorstellen, irgendwohin gezerrt zu werden, hatte stattdessen aber den Eindruck, sich im freien Fall zu befinden. Ihr wurde schon schwindlig, wenn sie nur die Straße runterblickte.
    So ein Quatsch! Das ist doch nur eine Straße!
    Sie hatte sich ihren Plan tausendmal durch den Kopf gehen lassen. Warum fürchtete sie sich jetzt?
    Sie war kein hilfloses Weibchen, und ihre Geldbörse trug sie zwischen den Beinen. Auf dem Weg nach Momemn würde sie – um es in der Sprache der Soldaten zu sagen – Pfirsiche verkaufen. Mochten Männer auch auf halbem Weg zwischen Frauen und den Göttern stehen: Auf ihren tierischen Hunger hatte sie sich noch immer verlassen können.
    Die Reise würde angenehm werden. Am Ende würde sie auf das Heer der Heiligen Krieger treffen, Achamian dort finden, ihn an der Wange packen und küssen. Dann hätte sie endlich einen Gefährten.
    Und sie würde ihm berichten, was geschehen war, damit er von der Gefahr erfuhr.
    Sie atmete tief ein und spürte, wie kalt und staubig es war.
    Dann zog sie los, und ihre Glieder waren so leicht, dass sie hätte tanzen mögen.
    Bald würde es dunkel sein.

10. Kapitel
     
    SUMNA
     
     
     
    Wie soll man das furchtbar Majestätische des Heiligen Kriegs beschreiben? Selbst ab noch kein Blut geflossen war, war er so erschreckend wie wunderbar anzusehen: ein großes Tier, dessen Glieder aus ganzen Nationen – Galeoth, Thunyerus, Ce Tydonn, Conriya, Ainon und dem Kaiserreich Nansur – bestanden und dessen Maul die Scharlachspitzen waren. Seit den Tagen des Geneischen Reichs oder des Alten Nordens hatte die Welt keine solche Versammlung mehr gesehen. Obwohl sie vom Virus der Politik befallen war, flößte sie doch Ehrfurcht ein.
     
    Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
     
     
     
    SUMNA, WINTER 4111
     
    Selbst als es schon dunkel geworden war, wanderte Esmenet – berauscht von der atemberaubenden Kühnheit ihres Aufbruchs – weiter. Ein paarmal geriet sie auf dunkle Wiesen, strich durch von Raureif bedecktes Gras und drehte sich mit ausgestreckten Armen unter den Sternen.
    Die Kälte war beinhart und der Raum unendlich. Die Dunkelheit war so überwältigend, als habe der Winter mit dem Rasiermesser alle Gegenstände, Geräusche und Gerüche weggekratzt. Hier draußen war es ganz anders als in der feuchten Düsternis von Sumna, wo tintenschwarze Gefühle die Wahrnehmung verzerrten. Hier im kalten Dunkel war die Welt ein leeres Pergament. Alles, so schien es, begann hier draußen.
    Sie kostete diesen Gedanken aus, obwohl er sie schaudern ließ.
    Achamian hatte ihr einmal erzählt, die Rathgeber würden fast das Gleiche glauben.
    Als es tiefe Nacht wurde, kam

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