Schattenfall
ihres Mannes verstrickt war. Esmenet hatte das Gefühl, über der Landstraße läge ein verborgener Glanz – als würden heimliche Zeugen ihres Heldenmuts jeden ihrer Schritte beobachten.
Sie zitterte unter ihrem Mantel. Es war so kalt, dass ihr Atem sofort gefror. Sie wanderte weiter und dachte daran, wie oft man im Winter das Frühlicht in banger Erwartung herbeisehnt. Die Morgendämmerung aber ließ auf sich warten.
Am späteren Vormittag erreichte sie eine Herberge, die direkt an der Straße stand. In der Hoffnung, sich den Wanderern anschließen zu können, die sich dort sammelten, trieb sie sich ein wenig vor dem Gebäude herum. Die beiden alten Männer, neben denen sie wartete, trugen jeder einen großen Scheffel mit Trockenfrüchten auf dem gebeugten Rücken. Aus ihren finsteren Blicken schloss Esmenet, dass sie vermutlich die Tätowierung auf ihrer linken Hand entdeckt hatten. Anscheinend wusste jeder, dass die Huren von Sumna eine Art Brandzeichen verpasst bekamen.
Als die Gruppe endlich loszog, folgte Esmenet so unauffällig wie möglich. Einige blauhäutige Priester – Anhänger Jukans – führten die Reisegesellschaft an, sangen leise religiöse Lieder und schlugen dazu die Schellentrommel. Ein paar andere fielen in den Gesang ein, die meisten aber blieben unter sich, trotteten die Straße entlang und unterhielten sich leise. Esmenet sah einen der beiden Alten mit einem Fuhrmann sprechen, der sich kurz darauf umwandte und sie auf genau die verständnislose Art musterte, der sie so oft begegnet war – mit dem Blick dessen nämlich, den es heimlich nach dem verlangt, was er öffentlich zu verabscheuen hat. Als sie ihn anlächelte, schaute er weg. Früher oder später würde er gewiss eine Gelegenheit herbeiführen, sie anzusprechen.
Dann würde sie eine Entscheidung treffen müssen.
Aber da riss ein Riemen an ihrer linken Sandale. Zwar ließen sich die Enden so verknoten, dass sie sie weiter tragen konnte, doch nun drückte sie und scheuerte durch die Wollsocken. Bald gingen Blasen auf, und schon humpelte sie. Im Stillen nahm sie es dem Fuhrmann herzlich übel, dass er sich so viel Zeit ließ, sie anzusprechen. Und sie murmelte manchen bösen Fluch auf die Kaiserliche Kleiderordnung, die Frauen das Tragen von Stiefeln in ganz Nansur verbot, in sich hinein. Dann gab auch der Knoten nach, und so sehr sie sich bemühte – sie konnte den Riemen nicht mehr reparieren.
Die Reisegruppe verschwand immer weiter in der Ferne.
Esmenet warf die Sandale in ihren Rucksack und ging barfuß weiter. Binnen weniger Meter schon fühlte ihre linke Sohle sich taub an, und nach zwanzig Schritten hatte sie das erste Loch im Strumpf. Kurz darauf schlotterte die Socke nur noch als Fetzen um ihren Knöchel. Esmenets Gang glich beinahe einem Hüpfen, und sie hielt oft an, um sich den Fuß warm zu massieren. Von den anderen war nichts mehr zu sehen. Dafür entdeckte sie weit hinter sich ein paar Leute, die Packtiere am Zaum zu führen schienen… oder Schlachtrösser.
Inständig betete sie, es möge sich um eine Karawane handeln.
Sie hatte die Via Karia eingeschlagen, die noch aus den Zeiten des Ceneischen Reichs stammte, von den Straßenarbeitern des Kaisers aber in gutem Zustand gehalten wurde. Die Trasse verlief schnurstracks durch die Provinz Massentia, die wegen ihrer endlosen Getreidefelder im Sommer Goldland hieß. Das Problem an der Via Karia war, dass sie nicht direkt nach Momemn, sondern tief in die Ebenen von Kyranae führte. Vor mehr als tausend Jahren hatte diese Straße das Heilige Sumna mit dem alten Cenei verbunden, inzwischen aber wurde nur noch das Teilstück von Massentia nach Sumna unterhalten. Esmenet wusste, dass die Via Karia irgendwo in den Wiesen endete, zuvor jedoch auf die viel wichtigere Via Pon traf, die nach Momemn führte und auf die es abzubiegen galt.
Trotz des Umwegs ins Landesinnere hatte Esmenet sich nach reiflicher Überlegung für die Via Karia entschieden. Obwohl sie Landkarten weder lesen noch bezahlen konnte und nie einen Schritt aus Sumna herausgetan hatte, wusste sie über diese und viele andere Straßen bis in die Einzelheiten Bescheid.
Alle Huren stufen ihre Kunden ein, wie es ihrem Geschmack entspricht. Manche mögen große, manche kleine Männer. Manche gehen am liebsten mit Priestern ins Bett und schwärmen von ihren zarten, zaghaften Händen, während andere der rauen Selbstgewissheit der Soldaten deutlich den Vorzug geben. Esmenet hatte stets Erfahrung am
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