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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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und zitierte damit ein altes Sprichwort der Shiradi, Reue verwandelt das Herz in einen Aussätzigen.
    Per Zauberformel entzündete er sein kleines Feuer und setzte dann Wasser für den Morgentee auf. Während er wartete, dass es kochte, studierte er die Umgebung: die nahen Säulen von Batathent, die in den Morgenhimmel ragten, und die einsamen Bäume, die sich dunkel über rankendem Strauchwerk und vertrocknetem Gras erhoben. Er lauschte dem gedämpften Zischen und Knacken des Feuers. Als er nach dem Topf mit kochendem Wasser langte, merkte er, dass seine Hände so stark zitterten, als litte er an Schüttellähmung. Lag das an der Kälte?
    Was ist mit mir los?
    Das sind die Umstände, sagte er sich. Das alles ist einfach zu viel für mich. Doch dann stellte er mit plötzlicher Entschiedenheit das Wasser beiseite, durchforstete sein kümmerliches Gepäck, nahm Tinte, Feder und ein Blatt Pergament aus dem Reisesack, setzte sich im Schneidersitz auf seine Matte und tunkte die Feder ins Tintenfass.
    Auf die Mitte des linken Rands schrieb er
     
    MAITHANET
     
    Zweifellos stand der Tempelvorsteher im Zentrum des Geheimnisses. Er, der die Wenigen erkennen konnte und vielleicht Inraus Mörder war.
    Rechts davon notierte er
     
    DER HEILIGE KRIEG
     
    – Maithanets Waffe und Achamians nächstes Ziel. Ein gutes Stück unter diese Worte kritzelte er
     
    SHIMEH
     
    Auf diese Stadt war Maithanets Heiliger Krieg gerichtet. Ob die Dinge wirklich so einfach lagen? Ob es nur darum ging, die Wirkungsstätte des Letzten Propheten vom Joch der Fanim zu befreien? Was gerissene Leute als ihr Ziel bezeichneten, hatte selten mit dem zu tun, was sie wirklich im Schilde führten.
    Von SHIMEH zog er eine Linie nach rechts und schrieb
     
    DIE CISHAURIM
     
    Waren sie glücklose Opfer von Maithanets Heiligem Krieg? Oder steckten sie irgendwie mit dem Tempelvorsteher unter einer Decke? Von DIE CISHAURIM wollte er eine Linie zu den Worten DER HEILIGE KRIEG in der Mitte des Blatts ziehen, unterbrach sich aber auf halbem Weg und notierte
     
    DIE SCHARLACHSPITZEN
     
    Der Orden wenigstens verfolgte eine klare Absicht, nämlich die Zerstörung der Cishaurim. Esmenet aber hatte zu Recht gefragt, wie Maithanet vom geheimen Krieg der Scharlachspitzen gegen die Cishaurim erfahren haben mochte.
    Achamian blickte einen Moment nachdenklich auf das, was er geschrieben hatte, sah der Tinte beim Trocknen zu und ergänzte sicherheitshalber
     
    DER KAISER
     
    rechts von DER HEILIGE KRIEG. In Sumna hatte es überall Gerüchte gegeben, der Kaiser bringe den Heiligen Krieg in Gefahr und wolle ihn zu einem Instrument machen, verlorene Provinzen für Nansur zurückzuerobern. Obwohl es Achamian ziemlich egal war, ob das Haus Ikurei damit Erfolg hatte oder nicht, wären solche Bemühungen zweifellos eine wichtige Variable in der Algebra der Ereignisse. Dann schrieb er in die obere rechte Ecke des Blatts
     
    DIE RATHGEBER
     
    Dieser Name war wie eine Prise Salz in klarem Wasser, denn er stand für die Apokalypse und für die lachende Verachtung, mit der die Großen Gruppen auf die Mandati herabsahen. Wo hielten sich die Rathgeber verborgen? Hatte er sie womöglich auf diesem Blatt schon unwissentlich notiert?
    Er studierte sein Schema ein Weilchen und probierte dabei den dampfenden Tee, der ihm den Magen wärmte und ihn gegen die morgendliche Kälte wappnete. Dann merkte er, dass auf dem Blatt irgendwas fehlte. Was mochte er vergessen haben?
    Mit zitternder Hand notierte er
     
    INRAU
     
    unterhalb von MAITHANET. Hat er dich getötet, mein Lieber? Oder bin ich es gewesen?
    Achamian verscheuchte diesen Gedanken – schließlich erwies er Inrau keine Ehre, indem er um ihn trauerte, und noch weniger, indem er in Selbstmitleid schwelgte, denn damit machte er die Schuldigen nicht dingfest. Wenn irgendwo Wiedergutmachung zu erlangen war, dann bei einem der Namen auf diesem Pergament. Ich bin nicht sein Vater. Ich muss sein, was ich bin – ein Kundschafter.
    Achamian zeichnete oft solche Schaubilder – nicht, weil er fürchtete, etwas zu vergessen, sondern weil er vermeiden wollte, etwas zu übersehen. Wenn man sich die Beziehungen zwischen den Beteiligten veranschaulichte, tauchten – wie er fand – stets weitere mögliche Zusammenhänge auf. Außerdem hatte sich diese einfache Methode schon bei früheren Ermittlungen oft als wertvolle Orientierung erwiesen. Der entscheidende Unterschied war allerdings, dass es in diesem Schaubild nicht um die belanglosen

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