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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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meisten geschätzt. Wer schwer gelitten hatte und über seine Enttäuschungen hinweggekommen war oder ferne, staunenswerte Dinge gesehen hatte, der stand bei ihr am besten da.
    Als sie jung gewesen war, hatte sie beim Sex mit solchen Männern stets gedacht: Jetzt bin auch ich Teil ihrer reichen, farbigen Welt – und hatte sich dadurch aufgewertet gefühlt. Wenn sie ihre Kunden hinterher mit Fragen löcherte, dann zum einen, um Einzelheiten aus dem Leben ihrer Bettgenossen zu erfahren, zum anderen aus einer allgemeinen Neugier auf die Welt. Wenn ihre Freier sie dann – um einiges an Silber und Samen erleichtert – wieder verließen, nahmen sie etwas von ihr mit und trugen es in die Welt. Auf diese Weise würde sich – so hatte Esmenet sich damals allen Ernstes eingeredet – ihr Gesichtskreis erweitern, da sie ja in den Blicken ihrer Kunden (auf dem Umweg über deren Erinnerung) präsent wäre. Esmenet wäre mithin – Triumph magischer Teilhabe! – durch die Augen ihrer verflossenen Freier, die als Kaufleute oder Soldaten auch künftig weit in der Welt herumkamen, noch in den abgelegensten Regionen in der unendlichen Verdünnung ihres Blicks zugegen.
    Ein paar Leute hatten sie von diesem Glauben kuriert. Zunächst die alte Hure Pirasha, die ohne Esmenets Großzügigkeit bitteren Hunger hätte leiden müssen. »Ach, Schatz«, hatte die Alte einmal gesagt, »Frauen können nur eins von Männern lernen: wie man die Welt ausplündert.« Dann war da der flotte Reiter von den Kidruhil gewesen, den sie zu lieben geglaubt hatte, der sie aber bei seinem zweiten Besuch nicht wiedererkannte und laut ausrief: »Du musst mich mit jemandem verwechseln – an eine Schönheit wie dich könnte ich mich doch erinnern!«
    Dann hatte sie ihre Tochter zur Welt gebracht.
    Sie wusste noch gut, dass sie bald nach der Geburt gedacht hatte, ihre Mutterschaft würde das Ende ihrer Illusionen bedeuten. Inzwischen aber war ihr klar, dass die Mutterrolle nur der Übergang von einer Form des Selbstbetrugs zu einer anderen gewesen war. Erst der Tod ihres Kindes hatte ihren Illusionen ein Ende gemacht. All die kleinen Kindersachen zusammenzusuchen, zu bündeln und der Schwangeren zu geben, die einen Stock tiefer wohnte, und dazu freundliche Worte zu sagen, damit es der Beschenkten – der Beschenkten! – nicht zu peinlich war…
    Der Tod ihrer Tochter hatte ihr viele Illusionen geraubt und ihr ein gerüttelt Maß Verbitterung beschert. Doch anders als so mancher hatte Esmenet keine Neigung zur Boshaftigkeit. Obwohl sie wusste, dass sie sich dadurch herabsetzte, gab sie ihrer Neugier auf die Welt noch immer unvermindert nach und schätzte die besten Geschichtenerzähler nach wie vor am meisten. Gesprächig waren ihre Freier eigentlich erst, wenn sie zum Schuss gekommen waren, und selbst dann verlor sich ihre Offenheit innerhalb von Minuten. Sogar die freundlicheren Kunden bekamen danach etwas Gefährliches. Esmenet hatte den Eindruck, viele Männer trügen Wüsten in sich, von deren Beschaffenheit nur Geschlechtsgenossen etwas ahnen mochten.
    In der kurzen Phase, in der ihre Freier befriedigt, gelöst und fast redselig waren, inszenierte Esmenet das, was sie als die echte Verführung begriff. »Erzähl mir doch«, bat sie dann mit säuselnder Stimme, »was dich zu einem so… außergewöhnlichen Mann gemacht hat.« Die meisten fanden diese Bitte amüsant. Andere reagierten verblüfft, genervt, gleichgültig oder sogar wütend. Nur eine kleine Handvoll Kunden – darunter auch Achamian – war von ihrer Aufforderung fasziniert. Dennoch entsprachen alle ihrer Bitte. Männer wollten nun mal für etwas Großes, Besonderes gehalten werden. Nach Esmenets Überzeugung neigten deshalb auch so viele zum Glücksspiel: Natürlich wollten sie einen Batzen Geld gewinnen, doch sie sehnten sich auch nach einem Beweis oder wenigstens einem Zeichen dafür, dass das Leben, die Götter, das Schicksal – dass irgendjemand sie von der Masse abgerückt hatte.
    Also erzählten sie ihr Geschichten, viele tausend im Laufe der Jahre. Sie lächelten dabei und glaubten, sie hätten etwas Fesselndes zu berichten – gebannt aber war Esmenet davon nur gewesen, als sie noch sehr jung war und von der Welt kaum mehr gewusst hatte als den Namen dessen, mit dem sie gerade im Bett lag. Bis auf eine Ausnahme hatte kein Mann geahnt, dass es ihr schon lange egal war, was die Geschichten über ihre Freier sagten, und es ihr allein darum ging, daraus etwas über die Welt zu

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