Schattenfall
Absichten irgendwelcher Einzelpersonen ging, sondern um die Großen Gruppen und ihre Verbindungen zum Heiligen Krieg. Die Dimensionen dieses Rätsels und das, was auf dem Spiel stand, übertrafen alles, womit er bisher zu tun gehabt hatte, bei weitem – wenn man einmal von dem absah, wovon er Nacht für Nacht träumte…
Er hielt den Atem an.
Ob es sich hier um das Vorspiel zur Zweiten Apokalypse handeln mochte?
Achamian blickte wieder auf die Worte DIE RATHGEBER, die einsam rechts oben in der Ecke standen, und merkte, dass sein Schaubild schon erste Früchte getragen hatte. Wenn die Rathgeber noch im Gebiet der Drei Meere aktiv waren, mussten sie irgendwie mit anderen verbunden sein. In so abenteuerlichen Zeiten konnten sie sich unmöglich abseits halten. Wo aber mochten sie sich verbergen? Unaufhaltsam zog es seine Augen zu
MAITHANET
zurück. Achamian nahm noch einen Schluck Tee. Wer bist du, Freundchen? Wie bekomme ich heraus, was du für einer bist?
Ob er nach Sumna zurückkehren sollte? Vielleicht könnte er sich mit Esmenet versöhnen? Mal sehen, ob sie einen Dummkopf wie ihn von seinem ohnehin angeschlagenen Hochmut erlösen würde. Wenigstens könnte er dafür sorgen, dass sie…
Er setzte hastig seinen ramponierten Becher ab, griff nach der Feder und schrieb
PROYAS
zwischen MAITHANET und DER HEILIGE KRIEG. Warum hatte er daran nicht schon früher gedacht?
Nachdem Proyas ihm auf den Treppenstufen unterhalb des Tempelvorstehers begegnet war, hatte Achamian erfahren, dass der Prinz es zu einem der wenigen Vertrauten Maithanets gebracht hatte. Das hatte ihn nicht überrascht. In den Jahren nach seinem Unterricht bei Achamian war Proyas zu einem militanten Frömmler geworden. Während Inrau sich den Tausend Tempeln verpflichtet hatte, um zu dienen, hatte Proyas sich dem Stoßzahn und dem Letzten Propheten angeschlossen, um zu urteilen – davon jedenfalls war Achamian überzeugt. Noch immer schmerzte ihn die Erinnerung an das Schreiben, mit dem Proyas ihren ohnehin kurz angebundenen Briefwechsel brüsk beendet hatte:
Wisst Ihr, was mich beim Gedanken an Euch am meisten schmerzt, mein alter Lehrer? Nicht, dass Ihr ein Gotteslästerer seid, sondern dass ich einmal einen Gotteslästerer gemocht und geschätzt habe.
Wie sollte er zu jemandem, der ihn mit so schroffen Worten bedacht hatte, wieder einen freundlichen Kontakt herstellen? Doch Achamian war klar, dass er genau dies würde tun müssen, und zwar aus Gründen, die zugleich über jeden Zweifel erhaben und zutiefst abgeschmackt waren. Er musste die Kluft zwischen ihnen überbrücken – nicht, weil er Proyas noch immer mochte (bemerkenswerte Menschen nötigen einem ja oft eine widerwillige Zuneigung ab), sondern weil er sich Zugang zu Maithanet verschaffen musste. Er brauchte Antworten, um sich zu beruhigen. Und vielleicht, um die Welt zu retten.
Wie Proyas ihn auslachen würde, wenn er ihm das erzählte… Kein Wunder, dass man die Mandati überall im Gebiet der Drei Meere für verrückt hielt!
Achamian stand auf, schüttete den restlichen Tee ins zischende Feuer, sah sich sein Schaubild ein letztes Mal an und fragte sich, wie die großen weißen Flächen auf dem Pergament sich würden füllen lassen.
Dann brach er sein Lager ab, bepackte das Maultier und setzte seine einsame Reise über felsige Hügel und steinige Ebenen fort. Irgendwann stellte er fest, dass er das Tal von Sudica längst hinter sich gelassen hatte.
Klopfenden Herzens ging Esmenet wie alle Übrigen durch das Halbdunkel. Über sich spürte sie die lastende Schwere des riesigen Stadttors, als habe das Schicksal diesen Engpass schon seit tausend Jahren in Erwartung ihrer Flucht für sie bereitgehalten. Sie warf einen raschen Blick auf die Gesichter ringsum, sah dort aber nur Müdigkeit und Langeweile. Für die anderen schien das Verlassen der Stadt ganz normal. Diese Leute, dachte sie, fliehen jeden Tag aus Sumna.
Einen unsinnigen Moment lang fürchtete sie um ihre Furcht. Bedeutete es etwa nichts, aus Sumna zu fliehen? War demnach die ganze Welt ein Gefängnis?
Plötzlich fand sie sich blinzelnd im Sonnenlicht wieder und blieb stehen, um zu den hellbraunen Türmen hochzusehen, die hinter ihr aufragten. Dann blickte sie sich um, atmete tief durch und kümmerte sich nicht um das Schimpfen der Leute hinter ihr. Soldaten saßen zu beiden Seiten des dunklen Torschlunds herum und musterten alle, die in die Stadt wollten, stellten aber keine Fragen.
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