Schattenfall
Xinemus Fechtmeister von Proyas gewesen, und im Zuge ihrer regelmäßigen Gespräche über den Jungen hatten die beiden Lehrer einander schätzen gelernt. So sehr Achamian Proyas auch mochte – Xinemus (der dem Kind mit solcher Ergebenheit begegnete, als sei es nicht Prinz, sondern schon König) mochte ihn mehr. Diese Begeisterung hatte den Fechtmeister sogar dazu gebracht, Achamian in sein Landhaus am Meneanor-Meer einzuladen, als er bei Proyas Zeichen dafür entdeckt hatte, dass die Willens- und Charakterstärke des Hexenmeisters auf den Schüler übergegangen war.
»Ihr habt den Jungen klug und besonnen gemacht«, hatte Xinemus gesagt, um die außergewöhnliche Einladung zu erklären. Adlige nämlich luden Hexenmeister eigentlich nie nach Hause ein.
»Und Ihr habt ihn gefährlich gemacht«, hatte Achamian entgegnet.
Das gemeinsame Lachen, das diesen Worten gefolgt war, hatte die Freundschaft der beiden besiegelt.
»Kurzzeitiger Fanatismus? Kann es so was überhaupt geben?«, überlegte Achamian jetzt halblaut und fragte Xinemus dann: »Ist Proyas also wieder zur Vernunft gekommen?«
Der Marschall verzog das Gesicht und kratzte sich gedankenverloren die Nase. »Ein Stück weit. Der Heilige Krieg und der vertraute Umgang mit Maithanet haben seinen Eifer neu entfacht, doch Proyas ist weiser geworden. Geduldiger. Und nachsichtiger, was die Schwächen seiner Mitmenschen anlangt.«
»Das hat er vermutlich dir zu verdanken. Wie hast du das geschafft?«
»Ich hab ihn verdroschen, bis Blut kam.«
Achamian lachte nur.
»Im Ernst, Akka. Nach dem Vorfall von Paremti hab ich seinen Hof in tiefer Empörung verlassen und den Winter in Attrempus verbracht. Dort hat er mich aufgesucht, allein…«
»… und um Vergebung gebeten?«
Wieder verzog Xinemus das Gesicht. »Schön wär’s gewesen… Er hat den langen Weg auf sich genommen, um mir eine Rüge zu erteilen…« Der Marschall schüttelte den Kopf und lächelte. Achamian wusste, worüber: Schon als Kind hatte Proyas zu liebenswerten Übertreibungen geneigt. Ganz allein zweihundert Meilen zu reiten, nur um einen Tadel loszuwerden – auf diese Idee hatte nur er kommen können.
»Er hat mir vorgeworfen, ihn in der Stunde der Not verlassen zu haben. Calmemunis und seine Leute hatten vor dem Kirchengericht und vor dem König Klage gegen ihn erhoben, und eine Zeitlang sah es nicht gut für ihn aus, obwohl er nie wirklich in Gefahr war.«
»Du weißt natürlich, dass er nur deinen Beistand gesucht hat, Xin«, meinte Achamian und unterdrückte einen Anflug von Neid. »Er hat dich immer sehr verehrt, auf seine Art jedenfalls… Und wie hast du reagiert?«
»Ich hab mir sein Geschimpfe so geduldig angehört, wie es mir möglich war. Dann hab ich ihn auf das Gelände zwischen der inneren und der äußeren Mauer meiner Burg geführt und ihm ein Übungsschwert zugeworfen. ›Wenn du mich bestrafen willst, bestraf mich‹, hab ich gesagt.« Xinemus lächelte, als Achamian sich vor Lachen bog.
»Schon als Kind war er hartnäckig, Akka, aber inzwischen ist er absolut unerbittlich. Er hat einfach nicht aufgegeben. Ich hab ihn mehrfach fast bewusstlos geschlagen, und er hat sich immer wieder aufgerappelt und schneenass und blutig das Holzschwert erhoben. Stets hab ich dann gesagt: ›Ich habe Euch unterrichtet, so gut ich konnte, mein Prinz, und doch verliert Ihr.‹ Und wieder ist er dann auf mich losgestürzt und hat dabei wie ein Verrückter gebrüllt.
Am nächsten Morgen hat er kein Wort gesagt und mich gemieden wie die Pest, doch am Nachmittag hat er mich aufgesucht. Im Gesicht hatte er so viele blaue Flecke, dass ich an einen schlecht gelagerten Apfel denken musste. ›Ich hab verstanden‹, meinte er. – ›Was habt Ihr verstanden?‹ – ›Eure Lektion‹, hat er geantwortet, ›ich hab Eure Lektion verstanden.‹ – ›Ach‹, hab ich gesagt, ›und was war das für eine Lektion?‹ – Und er meinte: ›Dass ich vergessen habe, wie man lernt. Dass Gott uns das Leben als Lektion gegeben hat. Und dass wir selbst dann, wenn wir die Ungläubigen Mores lehren wollen, bereit sein müssen, von ihnen zu lernen.‹«
Achamian sah seinen Freund beeindruckt an. »Und das hast du ihm beibringen wollen?«
Xinemus runzelte kopfschüttelnd die Stirn. »Nein. Ich hatte eigentlich nur die Überheblichkeit aus ihm rausprügeln wollen. Aber das hörte sich ganz gut an. Darum hab ich ›In der Tat, mein Prinz, in der Tat‹ gesagt und weise genickt – wie man das eben so macht,
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