Schattenfall
aufbrechen, nehmen sie immer denselben Weg durchs Gebirge, oder?«, fragte Moënghus.
»Natürlich.«
»Und warum?«
Cnaiür zuckte die Achseln. »Weil nur dieser Weg über die Pässe führt. Es gibt keinen anderen Zugang zum Kaiserreich.«
»Und wenn die Krieger sich sammeln, um die Weidegründe ihrer Nachbarn zu plündern – schlagen sie dann auch immer denselben Weg ein?«
»Nein.«
»Und warum nicht?«
»Weil sie durch die offene Prärie reiten. Die Steppe kann man auf unzähligen Wegen durchqueren.«
»Genau!«, rief Moënghus. »Und ist nicht jede Aufgabe wie eine Reise? Ist der erfolgreiche Abschluss der Aufgabe nicht wie die Ankunft? Und ist nicht Sehnsucht der Ort, wo jede Reise ihren eigentlichen Anfang nimmt?«
»Ich denke schon… Die Geschichtssänger jedenfalls sagen es so.«
»Dann sind die Geschichtssänger kluge Leute.«
»Sag endlich, worauf du hinauswillst, Sklave.«
Moënghus lachte und traf dabei genau den derben Ton des Scylvendi-Lachens, den die großen Krieger anschlugen. Selbst in einer solchen Situation hatte er stets gewusst, wie er sich in Positur zu werfen hatte. »Siehst du? Du wirst ungeduldig, weil du glaubst, ich würde einen zu gewundenen Pfad nehmen. Selbst Worte sind wie Reisen!«
»Und?«
»Und wenn alles Tun des Menschen einer Reise gleicht, dann frage ich dich, warum die Sitten und Gebräuche der Scylvendi wie Gebirgspässe sind. Warum schlagen sie immer und immer wieder den gleichen Pfad ein, obwohl es zahllose Wege gibt, die ans Ziel führen?«
Irgendwie fesselte diese Frage Cnaiür. Sie war so verwegen, dass er es schon mutig fand, ihr nur zuzuhören. Und ihre Logik war so überzeugend, dass er hochgestimmt und doch zugleich entgeistert war – als habe diese Frage etwas berührt, das verboten war und sich darum nur umso mehr nach Berührung gesehnt hatte.
Die Traditionen der Scylvendi – so hatte man ihm beigebracht – waren unveränderlich und heilig, die Sitten und Gebräuche der Fremden dagegen wechselhaft, ja entartet. Aber warum? Waren diese Traditionen nicht einfach nur unterschiedliche Wege, um zu ähnlichen Zielen zu gelangen? Warum sollten es einzig die Sitten und Gebräuche der Scylvendi sein, denen rechtschaffene Menschen folgen durften? Vor allem, da die weglose Steppe – wie die Geschichtssänger sagten – doch in allen Belangen der Scylvendi wirkte?
Zum ersten Mal sah Cnaiür seinen Stamm durch die Augen eines Außenstehenden. Wie seltsam ihm plötzlich alles schien! War es nicht ein glatter Witz, die Farbstoffe für das Färben der Felle nur aus Menstruationsblut zu gewinnen? War das Verbot, Jungfrauen ohne Zeugen zu beschlafen, Rinder mit der rechten Hand zu schlachten oder sein Geschäft in der Nähe von Pferden zu verrichten, nicht sinnlos? Sogar die rituellen Narben auf den Armen, die Swazond, schienen ihm nun recht absurd, seltsam und eher Produkt verrückter Eitelkeit als heiliges Zeichen.
Zum ersten Mal hatte er wirklich nach dem Warum gefragt. Als Kind hatte er seiner Mutter so viele Fragen gestellt, dass sie auf seinen Wissensdurst – auch wenn er auf Dinge des täglichen Lebens zielte – nur mit Klagen und Tadel reagiert hatte, worin sich (wie ihm inzwischen klar war) der alte mütterliche Groll gegen unausstehlich frühreife Kinder bekundete. Doch die Fragen von Kindern sind nur zufällig tiefsinnig, denn sie fragen nicht nur, um eine Antwort zu bekommen, sondern auch, um zurückgewiesen zu werden, denn nur so können sie lernen, welche Fragen erlaubt sind und welche nicht. Wirklich nach dem Warum zu fragen aber bedeutet, den Bereich des Erlaubten und Verbotenen ganz und gar hinter sich zu lassen.
Alles in Frage zu stellen. Kreuz und quer durch die weglose Steppe zu reiten.
»Wenn es keinen Pfad gibt«, hatte Moënghus hinzugefügt, »streunt der Mensch nur, wenn er seine Bestimmung verfehlt. Es gibt kein Verbrechen, keinen Regelverstoß und keine Sünden außer Dummheit und Unfähigkeit. Und es gibt nichts Ekelhaftes – bis auf die Tyrannei der Konvention. Aber das weißt du ja schon… Du stehst abseits deines Stamms.«
Moënghus hatte seine Rechte in die Nähe von Cnaiürs Linker wandern lassen, um fast zufällig danach zu greifen. In seiner Stimme lag etwas Träges, ja Laszives. Seine Augen waren weich, schwermütig und feucht wie seine Lippen.
»Ist es eine Sünde, wenn ich dich so berühre? Warum? Von welchem Gebirgspass sind wir abgekommen?«
»Von keinem…«, presste Cnaiür atemlos hervor.
»Und warum
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