Schattenfall
Eine Handvoll Dohlen zankte zwischen ihnen herum und hüpfte von Gesicht zu Gesicht. Das Aas, an dem sie sich gütlich taten, bedeckte den ganzen Boden: die Leichen von Sranc, die teils ausgestreckt, teils zusammengekrümmt und manchmal sogar übereinander um das Hügelgrab verteilt lagen. Vielen hing der Kopf so zur Seite, als sei ihr Genick gebrochen, und manches Gesicht wirkte wie in die Beuge unbeweglicher Arme oder Beine geschmiegt. So viele Tote! Nur auf der Hügelkuppe lagen keine Leichen.
Denn diese Kuppe war der letzte Gefechtsstand eines einzigen Mannes. Ein Gefechtsstand, dessen Verteidigung aussichtslos anmutete.
Der Überlebende saß im Schneidersitz auf dem Hügelgrab, hatte die Unterarme auf die Knie gestützt und blickte zu Boden, während über seinem Kopf eine strahlende Sonne stand.
Geier haben unter allen Tieren die schärfsten Sinnesorgane. Kein Wunder, dass sie gleich anfingen, beunruhigt zu krächzen, und sich mit großen, zerzausten Flügeln in die Luft schwangen. Der Überlebende hob den Kopf und beobachtete ihre Flucht. Dann wandte er sich Cnaiür zu, und es schien, als seien seine Sinne genauso scharf wie die der Geier.
Cnaiür konnte das Gesicht des Mannes kaum erkennen. Jedenfalls war es länglich und wies markante Züge auf, vor allem eine Adlernase. Vielleicht waren seine Augen blau, aber das hatte er lediglich aus dem Blond der Haare gefolgert.
Dennoch dachte Cnaiür tief erschrocken: Den Mann kenne ich doch…
Er erhob sich und ging mit ungläubigem Staunen auf die vielen Toten zu. Die Gestalt beobachtete ihn gelassen.
Ja, den kenne ich!
Er suchte sich einen Weg zwischen den Sranc hindurch und registrierte gleichsam unbeteiligt, dass jeder von ihnen durch einen einzigen, treffsicheren Streich umgekommen war.
Nein… unmöglich. Absolut unmöglich.
Der Hügel wirkte weit steiler als er war. Die Sranc zu seinen Füßen schienen tonlos zu heulen, als wollten sie Cnaiür warnen und beschwören, von dem Mann auf dem Hügel gehe ein Schrecken aus, der groß genug sei, den Abgrund zwischen Sranc und Mensch zu überwinden.
Cnaiür hielt ein paar Schritte unterhalb des Fremden, hob vorsichtig das Schwert seines Vaters und streckte die vernarbten Arme aus. Schließlich wagte er es, den sitzenden Mann direkt anzuschauen, und was dabei in seinem Herzen klopfte, war jenseits von Angst und Zorn…
Er war es.
So blutbesudelt und bleich der Mann auch dasaß – er war es tatsächlich! Ein zum Leben erwachter Alptraum.
»Du… «, flüsterte Cnaiür.
Der Mann reagierte nicht, sondern betrachtete ihn leidenschaftslos. Cnaiür sah, dass ihm Blut wie Pech aus einer versteckten Wunde troff und die graue Tunika verdunkelte.
Mit der wahnwitzigen Gewissheit eines Menschen, der ein bestimmtes Ereignis schon tausendmal geträumt hat, stieg Cnaiür fünf Schritte höher, setzte die polierte Spitze seiner Klinge unter das Kinn des Mannes, hob sie sanft und zwang sein Gegenüber so, das reglose Gesicht der Sonne zuzuwenden. Diese Lippen…
Nein, das ist er nicht! Das ist er nur beinahe…
»Du bist ein Dunyain«, sagte er mit tiefer und kalter Stimme.
Die hellen Augen sahen ihn an, waren aber völlig ausdruckslos und zeigten weder Furcht noch Erleichterung, weder Erkennen noch Nichterkennen. Dann sank der Mann rücklings zu Boden – wie eine Blume unter der Sense des Schnitters.
Cnaiürs Herz hämmerte wild.
Was hat das zu bedeuten!
Erstaunt sah der Häuptling der Utemot über die bleichen Kadaver der Sranc hinweg auf die Grabhügel seiner Väter und damit auf die eigene Vorgeschichte. Als er danach die Augen wieder auf die ohnmächtige Gestalt vor sich richtete, spürte er plötzlich die Knochen unter seinen Füßen – tief und in Embryonalstellung begraben. Und er begriff…
… dass er auf dem Grab seines Vaters stand.
Anissi. Seine meistgeliebte Frau. In der Dunkelheit war sie ein Schatten, der sich gertenschlank und kühl an seinen sonnenverbrannten Leib schmiegte. Die Muster ihrer Locken auf seiner Brust schienen ihn an jene fremden Schriften zu erinnern, die er so oft in Nansur gesehen hatte. Durch die Außenhaut des Zelts klang der Nachtregen wie unendliches Atmen.
Sie bewegte sich und verschob das Gesicht von seiner Schulter zum Arm. Er war überrascht, denn er hatte geglaubt, sie schliefe. Anissi… Wie unendlich liebe ich die Harmonie zwischen uns… Ihre Stimme war verschlafen und jung. »Ich hab ihn gefragt…« Ihn. Es beunruhigte Cnaiür, dass seine Frauen den
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