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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Qual!
    Dreißig Jahre lang hatte Cnaiür nun mit diesem Wirbelsturm gelebt, dessen Gewalt er durch immer tiefere Einsicht und endlose Selbstbezichtigungen ständig verstärkt hatte.
    Wenn er wach war, lebte die Qual, die ihm seine Selbsterkenntnis bereitete, gewissermaßen schattenhaft und so unauffällig in ihm, als würde sie nicht einmal Luft zum Atmen benötigen.
    Doch im Schlaf… hatte er schon viele Alpträume durchlebt.
    Das Gesicht von Moënghus steigt aus den Tiefen eines Teichs empor und schimmert im grünlichen Wasser ganz bleich. Überall im Dunkel ringsum öffnen sich Höhlen, die durch dünne Tunnel miteinander verbunden sind, wie man sie unter großen Steinen im Gras findet. Direkt unter der Wasseroberfläche hält der bleiche Dunyain inne, als verwehrte ihm eine Kraft in der Tiefe das Auftauchen. Er lächelt und öffnet den Mund. Mit panischem Schrecken beobachtet Cnaiür, wie sich ein Regenwurm zwischen den lächelnden Lippen herauswindet und die Wasseroberfläche durchbricht. Der Wurm erforscht die Luft wie ein blind tastender Finger, der wässerig und widerlich ist und dessen bleiches Rosa an Intimzonen erinnert. Und immer wieder treibt Cnaiürs Hand schwerfällig über den Teich und berührt den Wurm in einem stillen Moment des Wahns.
    Jetzt aber war Cnaiür wach, und doch war das Gesicht wieder da. Er hatte es auf der Pilgerfahrt zu den Hügelgräbern seiner Vorväter entdeckt. Es war aus den Einöden des Nordens gekommen und von Unterkühlung schwer gezeichnet und von Wunden übersät gewesen, die die Sranc ihm geschlagen hatten. Anasûrimbor Kellhus, der Sohn von Anasûrimbor Moënghus. Doch was mochte diese Wiederkunft bedeuten? Würde sie eine Antwort auf den Wirbelsturm liefern oder dessen Gewalt nur verdoppeln?
    Würde er es wagen, sich an den Sohn zu halten, um den Vater zu finden? Würde er die weglose Steppe durchqueren?
    Anissi hob den Kopf von seiner Brust und musterte sein Gesicht. Ihre Augen glitzerten im Dunkeln. Sie ist viel zu schön, um mir zu gehören, dachte Cnaiür.
    »Du hast noch immer nicht mit ihm gesprochen«, sagte sie, senkte den Kopf und küsste ihn auf den Arm. »Warum nicht?«
    »Ich hab dir doch gesagt, dass er… sehr mächtig ist.«
    Es mochte daran liegen, dass ihre Lippen ihm so nah waren – jedenfalls spürte er genau, wie sie nachdachte. »Ich teile deine… Bedenken«, meinte sie dann. »Aber manchmal frage ich mich, wer mir mehr Angst macht – du oder er.«
    Wut stieg in ihm auf – der langsam aufwallende, gefährliche Zorn eines Menschen, dessen Autorität fraglos und unumschränkt ist. »Du hast Angst vor mir? Warum das denn?«
    »Ich fürchte ihn, weil er unsere Sprache schon so gut spricht wie ein Sklave, der seit zehn Jahren hier lebt. Ich fürchte ihn, weil ich den Eindruck habe, seine Augen… blinzeln nie. Er hat mich schon zum Lachen und zum Weinen gebracht.«
    Stille. Manche Szene schoss ihm durch den Kopf – eine ganze Abfolge längst verblasster oder gerade erst verblassender Bilder. Er straffte sich auf der Matte und spürte den Kontrast seiner angespannten Muskeln und ihres weichen Körpers.
    »Ich fürchte dich«, fuhr sie fort, »weil du mir erzählt hast, einmal werde passieren, was jetzt geschieht. Du hast es vorhergesehen – bis ins kleinste Detail. Du kennst diesen Mann, und doch hast du nie mit ihm gesprochen.«
    Er spürte einen Schmerz in der Kehle. Bei mir hast du immer nur geweint, wenn ich dich geschlagen habe.
    Sie küsste seinen Arm und strich ihm mit dem Finger über die Lippen. »Gestern hat er mich gefragt, warum du wartest.«
    Seit er den Mann gefunden hatte, hatten die Ereignisse sich mit solcher Bestimmtheit entwickelt, als folgte noch das kleinste Vorkommnis einer Dramaturgie von Schicksal und Vorsehung. Zwischen ihm und diesem Mann konnte es gar keine größere Vertrautheit geben: Mit bloßen Händen hatte Cnaiür ihn schon in unzähligen Träumen erwürgt.
    »Du hast mich nicht erwähnt?«, erkundigte er sich in einem Ton, der seiner Frage den Charakter eines Befehls gab.
    »Nein. Aber du kennst ihn. Und er kennt dich.«
    »Durch dich – mich nimmt er nur durch dich wahr.« Er fragte sich einen Moment, was der Fremdling sehen, welches Bild von Cnaiür ihm aus den herrlichen Zügen Anissis entgegenleuchten mochte, und kam zu dem Schluss, es dürfte sich um ein durchaus wahrheitsgetreues Bild handeln.
    Von all seinen Frauen hatte nur Anissi den Mut, ihn in den Arm zu nehmen, wenn er im Schlaf aufschrie. Nur sie

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