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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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nicht?«
    »Weil wir in der Steppe unterwegs sind.« Und es gibt nichts Heiligeres als die Steppe.
    Moënghus lächelte wie ein Vater oder Liebhaber, dem plötzlich bewusst wird, welch gewaltige Zuneigung ihm entgegenschlägt. »Wir Dunyain, Cnaiür, sind Pfadfinder, Fährtenleser und Studenten des Logos, also der Kunde vom kürzesten Weg. Nur wir allein sind aus dem furchtbaren Schlummer der Konvention erwacht. Nur wir allein.«
    Er zog Cnaiürs Hand auf den Schoß und grub seine Daumen in die Haut zwischen seinen Schwielen.
    Wie konnte Glück nur so weh tun?
    »Erzähl mir, Häuptlingssohn, wonach du dich am meisten sehnst. Verrat es mir, denn ich bin erwacht und werde dir den Weg zeigen, den du gehen musst.«
    Cnaiür leckte sich die Lippen und log dann: »Ich sehne mich danach, ein großer Häuptling der Scylvendi zu werden.«
    Diese Worte! Diese herzzerreißenden Worte!
    Moënghus hatte so gravitätisch genickt wie ein Geschichtssänger, den bedeutende Vorzeichen zufrieden gestimmt haben. »Gut. Reiten wir zwei also zusammen über die offene Prärie, und ich zeige dir einen einzigartigen Weg.«
    Monate später war Skiötha tot und Cnaiür Häuptling der Utemot. Er hatte erreicht, was er zu erstreben behauptet hatte: das Weiße Zelt des Häuptlings.
    Obwohl seine Stammesbrüder mit dem Weg, den er eingeschlagen hatte, ganz und gar nicht einverstanden waren, band die Tradition sie an ihn. Er war verbotene Pfade gegangen, während sie – gefangen in Dummheit und blinder Gewohnheit – nur finster dreinschauen und hinter seinem Rücken grollen konnten. Wie stolz er gewesen war! Doch es war ein seltsam matter Stolz – dem einsamen Gefühl von Ungebundenheit und Straffreiheit verwandt, das er als kleiner Junge verspürt hatte, wenn er seine am Lagerfeuer schlafenden Brüder und Schwestern beobachtete und dachte: Jetzt könnte ich alles tun.
    Alles. Und sie würden nichts davon erfahren.
    Ein halbes Jahr später erwürgten die anderen Frauen seine Mutter, weil sie ein blondes Mädchen geboren hatte. Als sie ihren Leichnam auf Stangen pflanzten, damit die Geier ihn holten, begriff Cnaiür allmählich, was tatsächlich geschehen war. Ihm war klar, dass seiner Mutter dieser Tod bestimmt gewesen war – als Ergebnis einer Reise. Der Reisende aber war Moënghus.
    Zunächst stand er vor einem Rätsel. Der Dunyain hatte seine Mutter verführt und geschwängert – so viel stand fest. Doch zu welchem Zweck?
    Dann begriff er: um sich den Zugang zu ihrem Sohn zu sichern – zu Cnaiür von Skiötha.
    Damit begann seine geradezu zwanghafte Beschäftigung mit den Ereignissen, die ihn ins Weiße Zelt gebracht hatten. Schritt für Schritt machte er sich klar, wie aus kleinen, jugendlichen Verfehlungen Illoyalität geworden war, die schließlich zum Vatermord geführt hatte. Rasch löste sich die durchdringende Genugtuung, die älteren Verwandten überflügelt zu haben, in nichts auf. Rasch verwandelte sich der mit unbewegter Miene vorgebrachte Triumph, einen vom Pech verfolgten Menschen zerstört zu haben, in fassungslose Skepsis und ungläubige Verzweiflung. Er war stolz darauf gewesen, seinen Verwandten etwas vorauszuhaben, stolz auch darauf, mehr zu sein als sie, und er hatte seine Überlegenheit herzlich gern gezeigt. Er hatte den kürzesten Weg entdeckt und das Weiße Zelt geentert. War das nicht der Beweis seiner Überlegenheit? Moënghus jedenfalls hatte ihm das gesagt, ehe er die Utemot verlassen hatte, und seitdem hatte Cnaiür in dieser Überzeugung gelebt.
    Jetzt aber begriff er, dass er nur eines getan hatte: seinen Vater verraten. Er war verführt worden – genau wie seine Mutter.
    Mein Vater ist tot, und ich bin die Mordwaffe gewesen.
    Und Anasûrimbor Moënghus hatte diese Waffe geführt.
    Diese Erkenntnis raubte ihm den Atem und wollte ihm schier das Herz zerreißen. Einmal – Cnaiür war noch ein Kind gewesen – war ein Wirbelsturm durchs Lager der Utemot gezogen, dessen Haupt sich in den Wolken verloren, dessen Fuß aber Zelte, Vieh und Menschen in wildem Tanz durcheinandergewirbelt hatte. Cnaiür hatte den Tornado aus der Entfernung beobachtet, bitter geweint und sich an seinen steif und sehr aufrecht dastehenden Vater geklammert. Dann war die Windhose verschwunden wie aufgewühlter Sand, der sich im Wasser setzt. Cnaiür erinnerte sich noch, wie Skiötha durch einen Hagel vom Himmel fallender Dinge gerannt war, um den Stammesbrüdern zu helfen. Und daran, dass er ihm folgen wollte, bald aber stolpernd

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