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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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angehalten und wie gebannt betrachtet hatte, was vor ihm lag. Er hatte den Eindruck, das Ausmaß der vom Sturm bewirkten Veränderungen sei so gewaltig, dass er seinen Augen nicht mehr zu trauen vermochte. Das große, weitläufige Netz der Wege, Koppeln und Zelte, die das Lager bildeten, war völlig neu geknüpft worden und sah nun aus, als habe ein himmelhohes Riesenkind mit einem Stock in weit ausholenden Bewegungen kreisförmige Linien in den Staub gemalt. Mochte auch der Schrecken dort eingezogen sein, wo ihm vor Stunden, ja Minuten noch alles vertraut gewesen war – von höherer Warte aus betrachtet hatte nur eine Ordnung die andere abgelöst.
    Wie der Wirbelsturm hatten auch die Erkenntnisse, die er inzwischen über Moënghus besaß, sein altes Bild dieses Mannes zerstört und durch ein neues, viel schrecklicheres Bild ersetzt. Triumph hatte sich in Erniedrigung gewandelt, Stolz in Reue. Moënghus war nicht länger der, den er sich insgeheim zum Vater gewählt hatte, sondern ein unerträglicher Tyrann, ein Sklavenhalter, der sich nur als Sklave ausgegeben hatte. Die Worte, die ihm einmal Hochgefühle und den rauschhaften Eindruck vermittelt hatten, ungeahnter Wahrheiten teilhaftig zu werden, erschienen ihm nun als Worte, die ihn erniedrigt und zu schamlosen Begünstigungen verleitet hatten. Äußerungen, die ihn getröstet hatten, bekamen den Charakter von Steinen in einem verrückten Spiel. Ob es das Aussehen von Moënghus war, seine Berührung oder seine liebenswerten Eigenheiten: All das war vom Tornado in die Luft gerissen und gewaltsam umgedeutet worden.
    Eine Zeitlang hatte Cnaiür sich tatsächlich erweckt gefühlt und für den Einzigen gehalten, der nicht hilflos tastend durch ein Gewirr von Illusionen stolperte, das den Scylvendi durch die Traditionen ihrer Vorfahren aufgedrängt worden war. Für sie war die Steppe nicht nur die Gegend, auf die sie ihre Füße setzten und aus der sie ihren Lebensunterhalt bestritten, sondern auch der Raum, in dem sich ihre Seele entfaltete. Cnaiür von Skiötha dagegen wusste um die Wahrheit der Prärie, und er lebte diese Wahrheit. Nur er allein hatte den Schleier der Täuschungen durchstoßen. Während andere durch eingebildete Schluchten ritten, zog er über die weite, weglose Steppe. Von allen Utemot – so glaubte er – war nur er allein wirklich mit dem Land verbunden.
    Nur er allein. Warum war es eine so schreckliche Last, nicht abseits des Stamms zu stehen, sondern ihn anzuführen und sich ihm dabei so weit voraus zu fühlen?
    Doch der Wirbelsturm hatte auch dieses Gefühl gepackt. Cnaiür erinnerte sich, dass seine Mutter nach seines Vaters Tod geweint hatte, aber war das aus Trauer um Skiötha geschehen, den sie an den Tod verloren hatte, oder – wie bei Cnaiür – aus Trauer um Moënghus, den sie an die lockende Weite des Horizonts verloren hatte? Für Moënghus war die Verführung von Skiöthas erster Frau nur Zwischenhalt auf dem Weg zur Verführung des Erstgeborenen Cnaiür gewesen. Welche verlogenen Schmeicheleien mochte Moënghus ihr zugeflüstert haben, als sie im Dunkeln miteinander geschlafen hatten? Denn gelogen hatte er gewiss, da Moënghus gegenüber Cnaiür nie ein positives Wort über Skiöthas erste Frau verloren und nicht das kleinste Zeichen von Mitgefühl für sie an den Tag gelegt hatte. Und wenn er sie belogen hatte, dann…
    Das ganze Leben sei ein Suchen und Streben, hatte Moënghus einmal gesagt. Selbst die Regungen des Herzens – ob Sorge, Sehnsucht oder Liebe – seien Reisen durch wegloses Gebiet. Cnaiür hatte sich für eine Gründergestalt, für den Ursprung all seiner weitreichenden Gedanken gehalten, doch er war nur ein schlammiger Pfad gewesen, den ein anderer gegangen war, um an sein Ziel zu kommen. Das, was er als seine eigenen Gedanken begriffen hatte, war durchweg auf dem Mist eines anderen gewachsen. Er hatte geglaubt, erwacht zu sein, tatsächlich aber hatte er in tiefem Schlummer gelegen und sein Aufwachen nur geträumt. Durch eine fast unheimliche Gerissenheit war er dazu gebracht worden, eine Unsäglichkeit und Erniedrigung nach der anderen zu begehen, und er hatte dabei sogar noch vor Dankbarkeit geweint.
    Jetzt begriff er, dass seine Stammesbrüder sich seiner Verirrung – wenn auch nur dunkel – bewusst gewesen waren. Der Hohn und das Gelächter von Dummköpfen bedeuten nichts, solange man sich im Besitz der Wahrheit glaubt. Wenn man aber entdeckt, dass man getäuscht worden ist…
    Heulsuse.
    Welche

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