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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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flüsterte beruhigend auf ihn ein, wenn er weinend erwachte. Die übrigen Frauen lagen steif und reglos neben ihm und taten, als würden sie schlafen. Und das war gut so, denn die anderen hätte er geschlagen, wenn sie gewagt hätten, sich als Zeugen seiner Schwäche zu erkennen zu geben.
    Im Dunkeln griff Anissi nach seiner Schulter und zog daran, als wollte sie ihn von einer großen Gefahr wegzerren. »Herr, das ist frevelhaft. Er ist ein Zauberer und Hexenmeister.«
    »Nein, er ist weniger und zugleich mehr als das.«
    »Woher weißt du das?« Alle Vorsicht war aus ihrer Stimme verschwunden. Sie blieb hartnäckig.
    Er schloss die Augen. Bannuts grauhaariges Gesicht tauchte für einen Moment aus dem Dunkel auf – und mit ihm das Schlachtgetümmel am Kiyuth.
    Du heulende Schwuchtel …
    »Schlaf, Anissi.«
    Ob er es wagen würde, sich an den Sohn zu halten, um den Vater zu finden?
     
     
    Es war sonnig und so warm, dass man den Sommer unaufhaltsam näherrücken spürte. Cnaiür blieb vor dem breiten Kegel des Zelts stehen und betrachtete die Stichmuster auf der Außenwand. An Tagen wie diesem schwand gewöhnlich die letzte Winterfeuchte aus dem Leder und dem Holzgerüst der Zelte, und es roch nicht mehr nach Fäulnis, sondern nach Staub.
    Er ging vor dem Eingang in die Hocke, berührte den Boden mit zwei Fingern und führte sie an die Lippen, wie es Sitte war. Diesen Brauch empfand er als tröstlich, obwohl sich niemand erinnern konnte, welchen Sinn er mal gehabt haben mochte. Dann hakte er den Eingang auf, schlüpfte ins dunkle Zelt und ließ sich mit dem Rücken zur Öffnung im Schneidersitz nieder.
    Er hatte Mühe, die angekettete Gestalt im Dunkeln zu erkennen. Sein Herz pochte.
    »Meine Frauen haben mir erzählt, du hast unsere Sprache unglaublich schnell gelernt.«
    Durch die Öffnung hinter seinem Rücken fiel bleiches Licht. Cnaiür erkannte nun nackte Glieder, die grau waren wie totes Geäst. Der beißende Gestank von Urin und Fäkalien lag in der Luft. Der Gefangene sah gebrechlich aus und roch geradezu nach Krankheit. Cnaiür wusste, dass das kein Zufall war.
    »Stimmt, ich lerne schnell.«
    Der Häuptling unterdrückte ein Schaudern. Diese Ähnlichkeit!
    »Meine Frauen haben mir erzählt, du bist ein Hexer.«
    »Das bin ich nicht.« Der Mann atmete lange aus. »Aber das weißt du längst.«
    »Ich nehme es jedenfalls an.« Cnaiür zog sein Chorum aus dem kleinen Beutel, der ihm am Gürtel hing, und warf es seinem Gegenüber in flachem Bogen zu. Man hörte die Kette rasseln, als der Fremde den Anhänger wie eine Fliege aus der Luft fischte.
    Nichts geschah.
    »Was ist das?«
    »Ein Geschenk an meinen Stamm, aus sehr alter Zeit. Unser Gott hat es uns gegeben. Es tötet Hexer.«
    »Und die eingravierten Runen?«
    »Bedeuten nichts. Jetzt jedenfalls nicht.«
    »Du misstraust mir. Du fürchtest mich.«
    »Ich fürchte gar nichts.«
    Der Fremde schwieg, und die nun eintretende Pause mochte dazu dienen, unglücklich gewählte Worte zu überdenken.
    »Doch«, sagte der Dunyain schließlich. »Du fürchtest viel.«
    Cnaiür biss die Zähne zusammen. Jetzt ging das wieder los! Wieder setzte einer Worte als Mittel ein, um ihn rückwärts auf einen Gebirgspfad zu drängen, auf dem es links und rechts von Abgründen nur so wimmelte. Zorn stürzte durch ihn hindurch wie eine brennende Fackel durch einen leeren Schacht. Dieser Mann war eine Geißel…
    »Du weißt bereits«, sagte Cnaiür heiser, »dass ich anders bin als die Übrigen. Nimm aber noch zur Kenntnis, dass ich oft das Gegenteil von dem tun werde, was du mir rätst – und zwar nur, weil du mir dazu rätst. Und nimm zur Kenntnis, dass ich jeden Abend die Eingeweide eines Hasen daraufhin untersuchen werde, ob ich dich weiterleben lassen soll oder nicht. Ich kenne dich, Anasûrimbor. Ich weiß, dass du ein Dunyain bist.«
    Sollte der Gefangene erstaunt gewesen sein, ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken, sondern sagte nur: »Ich werde deine Fragen beantworten.«
    »Du wirst mir sagen, wie du deine jetzige Lage einschätzt, und mir erklären, warum du gekommen bist. Wenn du mir keine befriedigenden Antworten gibst, lasse ich dich töten, und zwar auf der Stelle.«
    Das war eine massive Drohung, und Cnaiür hatte sie sehr bestimmt vorgebracht. Andere würden über diese Worte gegrübelt und sie in aller Ruhe erwogen haben, um eine angemessene Antwort zu geben. Der Dûnyain hingegen reagierte sofort, als könnte Cnaiür ihn – was er auch sagen oder tun

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