Schattenfall
Hethanta-Gebirge gehörst du mir. Bis dort hab ich Zeit, mich zu entscheiden.«
»Aber wenn Fremde sich unmöglich allein durch die Prärie schlagen können – wie konnte mein Vater dann entkommen?«
Bei diesen Worten bekam Cnaiür eine Gänsehaut, dachte aber: Gute Frage – sie erinnert mich daran, wie heimtückisch die Leute deines Schlags sind.
»Moënghus war gerissen. Er hatte sich heimlich die Arme geritzt, um sich Narben beizubringen, und dafür gesorgt, dass diese Manipulation niemandem auffiel. Nachdem er meinen Vater umgebracht hatte und sicher sein konnte, dass der Ehrenkodex es den Utemot verbot, über ihn herzufallen, rasierte er sich und färbte sich die Haare schwarz. Weil er so gut Scylvendisch sprach wie die Einheimischen, durchquerte er das Land so unbehelligt wie wir es gerade tun: als Utemot, der mit dem Pferd aufgebrochen ist, um Gott plündernd die Ehre zu erweisen. Seine Augen waren fast bleich genug…« Dann fügte Cnaiür hinzu: »Was glaubst du wohl, warum ich dir während deiner Gefangenschaft verboten hatte, etwas anzuziehen?«
»Wer hat ihm die Haare gefärbt?«
Bei dieser Frage wäre Cnaiür beinahe das Herz stehengeblieben. »Ich.«
Der Dûnyain nickte bloß und musterte den öden Horizont. Unwillkürlich folgte Cnaiür seinem Blick.
»Ich war besessen!«, knurrte er. »Von einem bösen Geist besessen!«
»Stimmt«, gab Kellhus zurück und wandte sich wieder zu ihm um. In seinen Augen lag Mitleid, doch seine Stimme war hart wie die eines Scylvendi. »Mein Vater hatte von dir Besitz ergriffen.«
Cnaiür musste feststellen, wie sehr ihn interessierte, was sein Begleiter zu sagen hatte. Du kannst mir helfen. Du bist weise…
Ja – es ging wieder los! Wieder manipulierte so ein Hexer den Gesprächsverlauf und schlich sich besitzergreifend in sein Gefühlsleben ein. Wie eine Schlange sondierte er eine Möglichkeit, eine Schwäche nach der anderen. Weiche zurück!
»Warum hat man dich ausgesandt, deinen Vater zu töten?«, wollte Cnaiür wissen und griff diese noch immer unbeantwortete Frage wie zum Beweis dafür auf, dass er sich im Gespräch mit dem Dûnyain in einem Kampf befand, den er eigentlich nicht gewinnen konnte. Denn um einen Kampf handelte es sich – das war ihm inzwischen klar. Er unterhielt sich nicht mit seinem Begleiter: Er rang mit ihm. Ich werde mich nicht kampflos geschlagen geben.
Der Dûnyain sah ihn seltsam an, als sei er Cnaiürs unsinnigen Argwohns müde. Noch so ein Trick.
»Weil mein Vater mich gerufen hat«, gab er rätselhaft zurück.
»Und das soll der Grund dafür sein, ihn umzubringen?«
»Die Dûnyain haben sich der Welt zweitausend Jahre lang entzogen und würden, wenn sie könnten, bis in alle Ewigkeit verborgen bleiben. Doch vor einunddreißig Jahren, als ich noch ein kleines Kind war, entdeckte uns eine Schar Sranc. Wir wurden leicht mit ihnen fertig, doch mein Vater wurde vorsichtshalber in die Wildnis entsandt, um sich davon zu überzeugen, dass niemand sonst von uns erfahren hatte. Als er nach ein paar Monaten zurückkehrte, wurde seine Verbannung beschlossen. Sein Ausflug in die Welt hatte ihn befleckt, und er war zu einer Gefahr für unsere Mission geworden. Drei Jahrzehnte vergingen, und man nahm an, er sei umgekommen.«
Der Dûnyain runzelte die Stirn. »Doch dann ist er zu uns zurückgekehrt, und zwar auf noch nie dagewesene Art: Er hat uns Träume gesandt.«
»Hexerei«, sagte Cnaiür.
Der Dûnyain nickte. »Stimmt. Obwohl uns das damals noch nicht klar war. Wir wussten nur, dass unsere Abgeschiedenheit einen Makel bekommen hatte und der Ursprung dieser Verunreinigung gefunden und beseitigt werden muss.«
Cnaiür musterte das Profil seines Begleiters, das sanft im Handgalopp des Pferdes schwang. »Dann bist du also eine Art Auftragsmörder?«
»Genau das.«
Als Cnaiür zu dieser Antwort schwieg, konstatierte Kellhus: »Du glaubst mir nicht.«
Wie auch? Wie sollte er einem Menschen glauben, der nie wirklich etwas sagte, sondern immer nur und immer aufs Neue lavierte und manipulierte?
»Nein, ich glaube dir nicht.«
Kellhus wandte sich ab und ließ den Blick über die graugrüne Prärie schweifen, die sich endlos in alle Richtungen erstreckte. Sie hatten die hügeligen Weidegründe der Kuöti hinter sich gelassen und durchquerten nun die große Hochebene im Zentrum der Steppe Jiünati. Bis auf das Flüsschen vor ihnen, dessen Steilufer ein dünner Streifen aus Unterholz und Pappeln begleitete, war der Horizont so leer wie
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