Schattenfall
die Kursivschrift der Nichtmenschen graviert war. Achamian spürte, wie die Kugel an seinen Eingeweiden zerrte, als halte Geshrunni weniger einen Gegenstand als eine Abwesenheit zwischen den Fingern, ein kleines Loch im Gewebe der Welt. Er spürte das Herz in den Ohren pochen und dachte an das Messer unter seiner Tunika.
»Vier!« Dröhnendes Gelächter.
Er versuchte, seine Hand zu befreien. Vergeblich.
»Geshrunni…«
»Jeder Javreh-Hauptmann bekommt so eine Kugel«, sagte Geshrunni so nachdenklich wie stolz. »Aber das weißt du ja schon.«
Er hat mich die ganze Zeit zum Narren gehalten! Dass mir das nicht aufgefallen ist!
»Das ist sehr freundlich von deinen Herren«, sagte Achamian, der von der Gefahr, die inzwischen direkt über seiner Handfläche schwebte, ganz in Beschlag genommen war.
»Freundlich?« Geshrunni lachte auf. »Die Scharlachspitzen sind nicht freundlich. Sie sind unbarmherzig. Und grausam zu ihren Gegnern.«
Da nahm Achamian bei seinem Gegenüber zum ersten Mal die Qual wahr. Und den Kummer in seinen hellen Augen. Was geht hier vor? Er riskierte eine Frage: »Und wie sind sie zu ihren Dienern?«
»Da machen sie keinen Unterschied.«
Sie wissen es gar nicht! Nur Geshrunni…
»Fünf!«, dröhnte es zur niedrigen Decke.
Achamian leckte sich die Lippen. »Was willst du, Geshrunni?«
Der Kriegersklave sah auf Achamians zitternde Handfläche und senkte den Anhänger noch tiefer – wie ein Kind, das gespannt ist, was passiert. Dieser Anblick allein ließ Achamian schwindlig werden und trieb ihm die Galle hoch. Chorae. Tränen, gepflückt von den Wangen Gottes. Tod. Tod allen, die Gott lästern.
»Was willst du?«, wiederholte er heiser.
»Das, was alle wollen, Akka. Wahrheit.«
Was immer Achamian gesehen und welche Herausforderungen er auch überlebt hatte – all das war nun in den wenigen Zentimetern zwischen seiner schwitzenden Handfläche und der eingeölten Eisenkugel zusammengepfercht. Zwischen den schwieligen Fingern eines Sklaven wartete der Tod auf ihn. Doch Achamian war ein Ordensmann, und für Ordensleute ist nichts – nicht einmal das Leben – so kostbar wie die Wahrheit. Sie sind ihre kleinlichen Hüter und kämpfen um diesen Besitz immer und allerorten im Gebiet der Drei Meere. Es war besser zu sterben, als den Scharlachspitzen auch nur einen Zipfel der Wahrheit der Mandati zu überlassen.
Aber hier war mehr im Spiel. Geshrunni war allein – dessen war sich Achamian gewiss. Hexer erkennen einander an dem Mal, das der Gebrauch von Magie an ihnen – unsichtbar für andere – hervortreten lässt, und im Heiligen Aussätzigen saß sonst kein Zauberer, kein Mitglied der Scharlachspitzen, nur Säufer, die mit Huren Wetten abschlossen. Geshrunni hatte bei diesem Spiel keine Deckung.
Aber welchen verrückten Zweck mochte er verfolgen?
Erzähl ihm, was er hören will. Er weiß es ohnehin.
»Ich gehöre zum Orden der Mandati«, flüsterte Achamian schnell und ergänzte dann: »Ich bin ein Kundschafter.«
Gefährliche Worte. Aber welche Wahl hatte er denn?
Geshrunni musterte ihn einen atemlosen Augenblick lang, schloss dann langsam die Faust um sein Chorum und ließ Achamians Hand los.
Einen Moment lang war es seltsam still, dann fiel nebenan ein Silber-Ensolarius auf den Tisch und löste donnerndes Gelächter aus. »Verloren, du Hure!«, brüllte eine heisere Stimme.
Doch Achamian wusste, dass das nicht stimmte. Irgendwie hatte er heute Abend gewonnen, und zwar so, wie Huren stets gewinnen – intuitiv.
Schließlich gibt es kaum Unterschiede zwischen Kundschaftern und Huren. Und noch weniger zwischen Hexenmeistern und Huren.
Zwar hatte Drusas Achamian schon als Kind davon geträumt, Hexenmeister zu werden, doch war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er in diesem Beruf womöglich auch als Kundschafter würde arbeiten müssen. Die Kinder, die in den Fischerdörfern der Nroni aufwuchsen, kannten das Wort Kundschafter gar nicht. Als Junge hatte das Gebiet der Drei Meere für Drusas nur zwei Dimensionen gehabt: Es gab Orte in der Ferne und solche in der Nähe, und es gab die großen und die kleinen Leute. Wenn er mit anderen Kindern beim Austernknacken half, hörte er den Märchen und Geschichten der alten Fischersfrauen genau zu und lernte rasch, dass er zu den kleinen Leuten gehörte, dass aber in weiter Ferne große, mächtige Leute lebten. Geheimnisvolle und rätselhafte Namen kamen den alten Frauen über die Lippen – vom Vorsteher der Tausend Tempel war da die
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