Schattenfall
hatte ihn beobachtet – wohl, weil er seine Reaktion einschätzen wollte. »Was hast du denn?«, fragte er.
»Es ist einfach…«, fing Achamian an und holte tief Luft.
»Einfach was?«
Einfach so lange her… Tatsächlich hatte er vor zweitausend Jahren das letzte Mal einen Scylvendi gesehen – in seinen Träumen.
»Während der Apokalypse…«, begann er und zögerte dann. Warum war er bloß immer so schüchtern, wenn er über diese Dinge, über diese Tatsachen sprach? »Während der Apokalypse haben die Scylvendi sich dem Nicht-Gott angeschlossen, Kyraneas zu Fall gebracht, Mehtsonc geplündert und Sumna belagert, kaum dass Seswatha von dort geflohen war…«
»Du meinst ›von hier‹«, sagte Proyas.
Achamian sah sein Gegenüber fragend an.
»Kaum dass Seswatha von hier geflohen war«, erläuterte Proyas, »denn in dieser Gegend lag doch das alte Kyraneas.«
»Stimmt… von hier.« Sie befanden sich ja auf dem Gebiet des alten Kyraneas, das freilich metertief unter ihnen begraben schien. Seswatha war einmal sogar durch Momemn gekommen, das damals allerdings noch Monemora geheißen hatte und kaum mehr als eine Kleinstadt gewesen war. Und das – so begriff Achamian nun – war der Grund seiner Unruhe. Normalerweise hatte er kaum Probleme, die beiden Zeitalter – das gegenwärtige und das der Apokalypse – auseinanderzuhalten. Aber dieser Scylvendi… Es war, als seien ihm alte Katastrophen auf die Stirn geschrieben.
Achamian musterte die näher kommende Gestalt – die kräftigen Arme mit den vielen rituellen Narben und die brutalen Gesichtszüge, die davon zeugten, dass der Scylvendi gewohnt war, seine Widersacher tot zu sehen. Gleich hinter ihm ritt ein Mann, der genauso verdreckt und von der Reise erschöpft war wie der Steppenbewohner, aber das blonde Haar und den Bart eines Norsirai hatte. Er unterhielt sich mit einer ebenfalls flachsblonden Frau, die unsicher im Sattel schwankte. Achamian dachte einen Moment über die beiden nach – die Frau schien verletzt zu sein –, stellte aber fest, dass der Scylvendi seine Aufmerksamkeit unausweichlich in Bann zog.
Ein Scylvendi. Das schien ihm unglaublich bizarr. Hatte das Auftauchen dieses Mannes eine tiefere Bedeutung? Achamian hatte in letzter Zeit sehr viele Träume ertragen müssen, in denen Anasûrimbor Celmomas im Mittelpunkt stand, und nun tauchte dieser Mann auf – wie ein Wachtraum des alten Weltendes. Ein Scylvendi!
»Traut ihm nicht, Proyas. Diese Leute sind grausam und absolut gnadenlos. Brutal wie die Sranc, aber viel gerissener.«
Proyas lachte. »Hast du gewusst, dass die Nansur vor jedem Trinkspruch und jedem Gebet auf die Scylvendi fluchen?«
»Davon habe ich gehört.«
»Tja – während du einen Widergänger deiner Alpträume vor dir siehst, Ordensmann, sehe ich den Feind meines Feindes.«
Achamian begriff, dass der Anblick des Barbaren Proyas’ Hoffnungen aufs Neue geweckt hatte.
»Irrtum. Ihr seht einen Feind – nicht mehr und nicht weniger. Er ist ein Heide, Proyas, und sollte Euch ein Gräuel sein.«
Der Kronprinz sah ihn scharf an. »Genau wie du.«
Unfug! Wie kann ich ihn bloß dazu bringen, die Gefahr endlich zu begreifen?
»Proyas, Ihr müsst…«
»Nein, Achamian«, donnerte der Prinz. »Ich muss gar nichts. Erspare mir bitte dies eine Mal deine düsteren Vorahnungen!«
»Ihr habt mich doch bestellt, damit ich Euch berate«, sagte Achamian scharf.
Proyas fuhr herum. »Bockig zu sein, ziemt sich nicht für dich, alter Lehrer. Was ist bloß los mit dir? Ja, ich habe dich herbestellt, damit du mich berätst, aber du plapperst mir nur die Ohren voll. Ein Berater liefert seinem Herrn die Fakten, die für vernünftige Entscheidungen notwendig sind – oder hast du das vergessen? Jedenfalls bildet er sich kein eigenes Urteil und rügt seinen Herrn erst recht nicht, wenn der sich seiner Bewertung nicht anschließt.« Proyas wandte sich mit einem höhnischen Lächeln ab. »Wenigstens weiß ich jetzt, warum der Marschall sich solche Sorgen um dich macht.«
Diese Worte taten weh. Achamian konnte an Proyas’ Miene sehen, dass der ihn ganz bewusst hatte verletzen und ihm eine fast, aber eben nur fast tödliche Wunde hatte beibringen wollen. Nersei Proyas war ein Befehlshaber, der mit dem Kaiser um die Seele des Heiligen Kriegs rang. Er brauchte Entschlossenheit, den Anschein von Einmütigkeit und vor allem Gehorsam.
Achamian wusste all das, und dennoch taten die harten Worte des Prinzen ihm weh.
Was ist bloß mit mir
Weitere Kostenlose Bücher