Schattenfall
der Sprachlosigkeit.
»Wer in mir lebt«, zitierte er, »der wird von der Ungewissheit erlöst.« Er musterte Achamian verächtlich. »Unterwerft euch, wie sich das Kind dem Vater unterwirft, und all eure Zweifel sind besiegt.«
Der Ordensmann erwiderte den Blick des Prinzen einen bitteren Moment lang. Dann nickte er mit dem ironischen Widerwillen eines Menschen, der die ganze Zeit gewusst hat, dass sein rührseliger Bekehrungsversuch zum Scheitern verurteilt ist. Selbst Proyas hatte das Gefühl, mit dem Zitieren aus dem Heiligen Text zu kaum mehr als einem schäbigen Trick Zuflucht genommen zu haben. Aber warum? Wie konnte das lautere Wort des Letzten Propheten – dieses Alpha und Omega des Glaubens – so klingen wie… wie…
Er fand das Mitleid in den Augen seines alten Lehrers unerträglich.
»Wage ja nicht, mich zu beurteilen«, knirschte Proyas.
»Warum habt Ihr mich gerufen?«, fragte Achamian matt. »Was wollt Ihr?«
Der Kronprinz von Conriya sammelte sich und atmete tief durch. Achamian hatte geschafft, was er unbedingt hatte verhindern wollen: Es war ihm gelungen, ihn in einen Sumpf belangloser Dinge zu ziehen. Aber damit war jetzt Schluss.
Heute war der Tag. Er musste es einfach sein…
»Gestern Abend habe ich eine Nachricht von Iryssas bekommen, dem Neffen von Xin. Er hat jemand Interessanten aufgegabelt.«
»Wen?«
»Einen Scylvendi.«
Muss Proyas mir wirklich mit einem Kinderschreck kommen?
Achamian musterte sein Gegenüber scharf, schien ansonsten aber unbeeindruckt. »Iryssas ist erst vor einer Woche losgeritten. Wie kann er so kurz vor Momemn auf einen Scylvendi treffen?«
»Sieht so aus, als wäre der unterwegs gewesen, um sich dem Heiligen Krieg anzuschließen.«
Achamian sah verdutzt drein. Proyas wusste noch, wann er diese Miene das erste Mal bei seinem Lehrer gesehen hatte: als Jugendlicher beim Benjuka-Spiel unter den Tempelulmen im Garten seines Vaters. Wie hatte er diesen Anblick genossen!
Diesmal war die Verblüffung schnell verschwunden. »Vielleicht ist das ein Trick?«, fragte Achamian.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Deshalb hab ich dich zu mir bestellt.«
»Das muss eine Finte sein«, erklärte Achamian. »Scylvendi schließen sich doch keinem Heiligen Krieg der Inrithi an! Für die sind wir doch kaum mehr als…« Er unterbrach sich. »Aber warum habt Ihr mich ausgerechnet hierher bestellt?«, fragte er, als dächte er laut nach. »Doch wohl nur, um…«
Proyas lächelte. »Ich erwarte Iryssas in Kürze. Sein Bote meint, er habe nur ein paar Stunden Vorsprung vor dem Trupp des Haushofmeisters. Ich habe Xinemus losgeschickt, um sie direkt hierherzubringen.«
Der Ordensmann betrachtete kurz den Sonnenaufgang und dachte dabei an eine riesige dunkelrote Lederhaut über einer goldenen Iris. »Er reist nachts?«
»Als sie dem Mann und seinen Begleitern begegneten, wurden diese von der Elitekavallerie des Kaisers verfolgt. Anscheinend hielt Iryssas es für klug, möglichst schnell zurückzukehren. Der Scylvendi hat offenbar ein paar recht interessante Behauptungen aufgestellt.«
Achamian streckte die Hand aus, als wollte er allzu ausführliche Details abwehren. »Und wer sind die Begleiter?«
»Ein Mann und eine Frau. Mehr weiß ich nicht – nur, dass beide keine Scylvendi sind und dass der Mann sagt, er sei ein Prinz.«
»Welche Behauptungen hat der Scylvendi denn aufgestellt?«
Proyas hielt inne, um das Zittern in seiner Stimme herunterzuschlucken. »Dass er weiß, wie die Fanim kämpfen, und dass er sie auf dem Schlachtfeld besiegt hat. Und er bietet dem Heiligen Krieg seine Einsichten an.«
Endlich begriff Achamian, warum der Prinz so aufgeregt und ungeduldig gewesen war: Proyas hatte den Kut’ma der Benjuka-Spieler gesehen, den verborgenen Zug also. Er hoffte offenbar, den Kaiser mit diesem seltsamen Scylvendi maßlos ärgern, vor allem aber besiegen zu können. Achamian konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Selbst nach all den harten Worten kam er nicht umhin, die Aufregung seines ehemaligen Schülers ein Stück weit zu teilen.
»Er behauptet also, er sei Euer verborgener Zug«, meinte er.
»Könnte das möglich sein, Akka? Haben die Scylvendi die Fanim bekriegt?«
»Die südlichen Stämme fallen immer wieder in Gedea und Shigek ein. Als ich in Shimeh stationiert war, gab es…«
»Du bist in Shimeh gewesen?«, platzte Proyas heraus.
Achamian machte ein finsteres Gesicht. Wie die meisten Lehrer wurde er sehr ungern unterbrochen.
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