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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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ein Mob. Jede Menge Leute drängten durch die enge Gasse auf sie zu, während kleinere Gruppen zwischen den Zelten ringsum herankamen. Die Männer stapften durch kalte Feuerstellen, rissen Wäscheleinen zu Boden und warfen Klapphocker und provisorische Vorrichtungen zum Kochen um. Achamian sah sogar ein großes Zelt halb zusammensacken, weil die herbeiströmenden Leute die Schnüre aus der Verankerung gerissen hatten.
    Dann aber entdeckte er mitten in der Menge einen disziplinierten Verband purpurrot gekleideter Soldaten, in deren Mitte wiederum ein paar Sklaven mit nacktem Oberkörper eine Sänfte aus Mahagoni trugen.
    »Das ist irgendeine Prozession«, meinte Xinemus. »Aber wer würde…«
    Seine Stimme verlor sich, denn sie hatten beide gleichzeitig ein langes, purpurrotes Banner entdeckt, dessen Schriftzeichen im Ainonischen für das Wort »Wahrheit« standen und das zudem eine zusammengerollte dreiköpfige Schlange aufwies: das Symbol der Scharlachspitzen.
    Die Goldstickerei schimmerte im Sonnenlicht.
    »Warum lassen die ihre Standarte so wehen?«, wollte Xinemus wissen.
    Gute Frage. Für viele Männer des Stoßzahns gab es nur einen Unterschied zwischen Hexern und Heiden: Hexer brannten noch besser. Dass ein Orden seine Standarte mitten im Lager präsentierte, war schlicht tollkühn.
    Es sei denn…
    »Hast du dein Chorum dabei?«, fragte Achamian.
    »Du weißt doch, dass ich es nicht trage, wenn ich…«
    »Hast du es überhaupt mit?«
    »Bei meinen Sachen.«
    »Dann hol es… Aber schnell!«
    Achamian begriff, dass sie ihre Standarte seinetwegen wehen ließen. Sie hatten die Wahl zwischen zwei Risiken gehabt: dem, den Mob aufzuwiegeln, und dem, jemanden vom Orden der Mandati zu erschrecken. Dass sie dies für die größere Gefahr gehalten hatten, zeugte davon, in wie miserabler Beziehung die beiden Orden zueinander standen.
    Die Scharlachspitzen wollten ihn offensichtlich kennenlernen. Aber warum?
    Die aufgebrachte Menschenmenge rückte immer näher, während sich die Prozession unbeirrt vorankämpfte. Achamian sah Erdklumpen gegen die Sänfte knallen und zerstieben. Der Ruf »Gurwikka!« – eine abfällige, bei den Norsirai verbreitete Bezeichnung für »Hexer« – war bald überall zu hören.
    Xinemus kam aus dem Zelt gehetzt und rief seinen Sklaven dabei Befehle zu. Das ungeschnürte Kettenhemd hing ihm schlackernd von den Schultern, und in der Linken hielt er sein Schwert bereit. Viele seiner Soldaten sammelten sich schon um ihn. Achamian sah Dutzende weiterer Männer aus allen Ecken der Nachbarschaft gelaufen kommen, doch ihre Zahl schien es mit den Hunderten, vielleicht sogar Tausenden von Kampflustigen, die von allen Seiten nachrückten, nicht aufnehmen zu können.
    Mit ausgeprägter Schroffheit bahnte Xinemus sich zwischen seinen Männern hindurch einen Weg zu Achamian.
    »Bist du sicher, dass die wegen dir kommen?«, rief er durch das lauter werdende Gebrüll.
    »Warum würden sie sonst ihre Standarte hier aufpflanzen? Indem sie ganz öffentlich vorgehen, sorgen sie für Zeugen. So merkwürdig es klingt: Ich glaube, sie tun das, um mir ein Gefühl von Sicherheit zu geben.«
    Xinemus nickte nachdenklich. »Sie vergessen, wie verhasst sie sind.«
    »Wer tut das nicht?«
    Der Marschall warf Achamian einen merkwürdigen Seitenblick zu, fasste den immer näher kommenden Mob ins Auge und kratzte sich den Bart. »Ich werde eine Absperrung errichten. Oder es wenigstens versuchen. Du bleibst hier, und zwar sichtbar. Egal, wer der Dummkopf in der Sänfte ist: Wenn er mit dir zusammenkommt, sagst du ihm, er soll die Standarte einholen und sich sofort verziehen, sofort – hast du verstanden?«
    Diese Worte schmerzten. In all den Jahren, die Achamian und Krijates Xinemus sich nun kannten, hatte der Soldat ihm nie im Kommandoton einen Befehl erteilt. Nun aber war der stets liebenswürdige Xinemus unvermittelt zum Marschall von Attrempus geworden – zu einem Mann mit einer Aufgabe, der viele Soldaten zur Verfügung hatte. Doch Achamian merkte, dass ihm etwas anderes weh tat, denn die Lage erforderte nun mal Entschlossenheit. Was ihn schmerzte, war der zornige Unterton von Xinemus und das Gefühl, dass sein Freund ihm irgendwie die Schuld an der Situation gab.
    Achamian beobachtete, wie Xinemus seine Männer in einer Linie antreten ließ, sie dann mit Hilfe von Dinchases in einem dünnen Halbkreis zwischen den umliegenden Zelten verteilte und dabei den abflusslosen Kanal, der sich hinter ihnen kräuselte, als

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