Schattenfall

andersartiges Gesicht, das sich da unter den Beratern befand… ein beunruhigendes Gesicht.
    Erst war es nur ein leiser Missklang, eine vage Unstimmigkeit, die seine Aufmerksamkeit erregte. Ein alter Mann in einer feinen, kohlrabenschwarzen Seidenrobe – ein Mann, dem sich die anderen offensichtlich fügten und den sie respektierten. Einer seiner Begleiter beugte sich zu ihm und murmelte ihm etwas zu, das wegen des Wisperns ringsum unhörbar war. Aber Kellhus konnte seine Lippen sehen:
    Skeaös…
    Das war der Name des Beraters.
    Kellhus atmete tief ein und unterbrach seine vorherigen Gedankengänge. Das Ich, mit dem er seiner Umgebung im Alltag begegnete, verlosch und löste sich von ihm wie welke Blütenblätter. Die Geschwindigkeit der Ereignisse verlangsamte sich. Er wurde zu einem Ort, zu einem leeren Feld für eine einzige Figur: für die verwitterte Landschaft auf dem Gesicht des alten Mannes.
    Er konnte keinen für ein Erröten sorgenden Reflex wahrnehmen. Und er stellte fest, dass es zwischen Pulsfrequenz und Mienenspiel keine Verbindung gab…
    Doch dann merkte er, dass das Stimmengewirr ringsum nachließ, zog sich vom Anblick des alten Skeaös zurück und öffnete sich der Umwelt wieder. Gleich würde der Kaiser das Wort ergreifen, und was er sagte, konnte das Schicksal des Heiligen Kriegs besiegeln.
    Fünf Herzschläge waren vergangen.
    Was mochte das bedeuten? Ein einzelnes, unentzifferbares Gesicht inmitten einer Unzahl durchschaubarer Mienen.
    Skeaös… Bist du meines Vaters Werk?
     
     
    Der Logos ist ohne Anfang und. Der Logos ist ohne Anfang und. Der Logos ist ohne Anfang und. Der Logos ist ohne…
    Zunächst schmeckte er Blut auf den Lippen, doch die starre Litanei spülte diesen Eindruck langsam weg. Der Missklang in seinem Inneren wurde schwächer und verlor sich allmählich in totenähnlicher Stille. Sein Körper wurde ihm fremd und erschien ihm als Wechselrahmen. Und der Zeitfluss – das Tempo, in dem aus Zukunft Vergangenheit wird – wandelte sich.
    Die Säulenschatten des Heiligtums glitten über den nackten Boden. Sonnenlicht spielte erst sanft auf seinem Gesicht und blendete ihn bald darauf, doch er blieb reglos sitzen und empfand nicht einmal die grellen Strahlen als unangenehm. Und als der alte Pragma sich erhob und ihm Wasser über die Lippen goss, war er nur ein glatter Stein, der zwischen Moos und Kieseln unter einem Wasserfall lag.
    Die Sonne war zwischen den Säulen vor ihm aufgegangen und ging nun zwischen den Säulen hinter ihm unter. Dabei ließ sie seinen Schatten erst in den Schoß des Pragma, dann weiter in die wie poliert wirkenden Bäume fallen, wo er sich mit seinen Schattenbrüdern sammelte und immer düsterer wurde, bis er in Nacht überging. Wieder und wieder sah Kellhus die Sonne aufgehen und sinken und erlebte die flüchtige Pause der Nacht, und bei jedem ersten Morgenstrahl wurde der Satz des Pragma um noch ein Wort kürzer. Während die Welt draußen immer schneller wurde, verlangsamte sich die Bewegung seiner Seele.
    Bis er nur noch flüsterte:
    Der Logos. Der Logos. Der Logos…
    Er war ein Hohlraum voller Echos, die keinen Urheber hatten. Jede Lautfolge war tadellose Wiederholung ihrer Vorgängerin. Er war ein Wanderer durch einen abgründigen Spiegelkorridor, und jeder Schritt, den er tat, war so trügerisch wie der, den er davor getan hatte. Nur Tag und Nacht strukturierten seine Reise und verringerten den Abstand zwischen den Spiegelwänden immer mehr, bis die sich in unendlicher Spiegelung gegenüberliegenden Fluchtpunkte zusammenzufallen drohten – bis dorthin also, wo die Seele völlig zur Ruhe kommt.
    Als die Sonne wiederum aufging, zogen seine Gedanken sich auf ein einziges Wort zurück:
    Der. Der. Der. Der…
    Das schien ein absurdes Stottern, zugleich aber der tiefgründigste Gedanke, der sich anscheinend nur durch die Abwesenheit von »Logos« im Rhythmus seines Herzens hatte entfalten können und nun Moment für Moment erfüllte. Das rationale Denken ließ mehr und mehr nach, während die Sonne ihren Tageslauf um das Heiligtum antrat und vollendete, bis die Nacht schließlich das Leichentuch des Himmels mit Tausenden von Sternen durchstach und das Firmament sich wie ein unendliches Wagenrad über ihm drehte.
    Der. Der …
    Eine exaltierte Seele, die doch an den Rand dessen gekettet war, was zu transzendieren sie sich anschickte; eine Seele, die an den köstlichen Moment der Vorlust geschmiedet war, an ein Gefühl ekstatischer und doch ganz