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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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Augen ausgestochen.
    »Wer ist das?«, fragte Kellhus.
    Cnaiür spuckte auf den Boden und sah zu, wie die Gardisten den Mann ganz unten an die kaiserliche Sitzbank ketteten.
    »Xunnurit«, sagte er dann. »Er war bei der Schlacht am Kiyuth unser Stammeskönig.«
    »Das soll bestimmt die Schwäche der Scylvendi zeigen«, sagte Proyas gepresst. »Also auch deine Schwäche, Cnaiür… Dieser Mann soll als Beweis in einer Versammlung dienen, die dein Prozess zu werden scheint.«
    »Du setzt dich hier ganz gerade hin«, sagte der Pragma weder streng noch freundlich, »und wiederholst den Satz ›Der Logos ist ohne Anfang und Ende‹ ohne Unterbrechung, bis dir etwas anderes befohlen wird. Hast du verstanden?«
    »Ja, Pragma«, antwortete Kellhus.
    Er setzte sich auf eine kleine Schilfmatte in der Mitte des Heiligtums. Der Pragma nahm ihm gegenüber auf einer ähnlichen Matte Platz und wandte den besonnten Pappeln und den gähnenden Schluchten der hinter den Bäumen aufragenden Berge den Rücken zu.
    »Fang an«, sagte der Pragma und fiel in Reglosigkeit.
    »Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne…«
    Zuerst wunderte er sich über die Leichtigkeit der Aufgabe, doch die Worte verloren rasch ihre Bedeutung, wurden zu einer monotonen Endlosschleife unbekannt anmutender Laute und schienen nichts mehr mit Sprechen zu tun zu haben, sondern eher eine zähe Übung von Zunge, Zähnen und Lippen zu sein.
    »Hör auf, es laut zu sagen«, befahl der Pragma. »Sag es nur in Gedanken.«
    Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne…
    Das war ganz anders und – wie er rasch merkte – sehr viel schwerer. Den Satz laut zu sagen, hatte seine Wiederholung irgendwie gefördert, als lehnte der Gedanke sich an die Sprechorgane an. Jetzt hingegen musste der Satz auf eigenen Beinen stehen und schien im Nirgendwo seiner Seele sofort eigenartig ausgesetzt, wie er da wiederholt und wiederholt und wiederholt wurde – gegen alle Gewohnheiten des logischen Schließens und der spontanen Gedankenverknüpfung.
    Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne…
    Das Erste, was ihm auffiel, war die seltsame Schlaffheit seines Gesichts, als habe die Übung irgendwie die Verbindung zwischen Mimik und Gefühlen unterbrochen. Sein Körper wurde sehr ruhig – wesentlich ruhiger als er je erlebt hatte. Gleichzeitig aber bestürmten ihn von innen merkwürdige Spannungsschübe, als würde tief in ihm etwas zurückschrecken und seiner inneren Stimme den Atem verweigern, so dass die Wiederholung zu einem Flüstern gedämpft und zu einem dünnen Faden wurde, der sich durch mächtige Wirbel unverständlicher, unfertiger Gedanken schlängelte.
    Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne…
    Die Sonne stieg über den zerklüfteten Berghängen auf und sprenkelte den Rand seines Blickfelds mit einem Nebeneinander dunkler Schlünde und heller, kahler Steilwände. Kellhus befand sich unversehens im Krieg. Noch in den Anfängen steckende Triebe bäumten sich aus dem Nichts auf und erforderten Nachdenken. Nie gehörte Stimmen entwanden sich der Dunkelheit und forderten Nachdenken. Bedrängende Szenen, in denen geschimpft, gefleht, gedroht wurde, traten ihm vor Augen – und forderten allesamt Nachdenken. Und durch all dies klang der Gedanke:
    Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne Anfang und Ende. Der Logos ist ohne…
    Viel später erst begriff er, dass diese Übung seine Seele umrissen hatte. Die ständige Wiederholung des Satzes, den der Pragma ihm gegeben hatte, hatte ihn dazu gebracht, sich mit sich selbst zu messen, und ihm gezeigt, wie sehr er sich selbst ein Fremder war. Erstmals hatte er die Dunkelheit, die ihm vorausgegangen war, wirklich gesehen, und wusste nun, dass er vor diesem Erlebnis nie wirklich wach gewesen war.
    Als die Sonne schließlich unterging, brach der Pragma sein Schweigefasten.
    »Du hast deinen ersten Tag beendet, junger Kellhus, und wirst nun die ganze Nacht mit der Übung fortfahren. Wenn der erste Strahl der Morgensonne auf den Gletscher im Osten fällt, wirst du deinen Satz um das letzte Wort verkürzen, ansonsten aber wie zuvor weitermachen. Jeden Morgen, wenn die Sonne auf den Gletscher trifft, wirst du deinen Satz um das jeweils letzte Wort verkürzen. Hast du das verstanden?«
    »Ja, Pragma.« Ihm schien, als habe ein anderer

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