Schattenfall
diese Worte gesprochen.
»Dann mach weiter.«
Als die Dunkelheit das Heiligtum unter sich begraben hatte, nahm der Kampf zu. Sein Körper war ihm abwechselnd schwindelnd weit entrückt und dann wieder so nah, dass er zu ersticken meinte. Mal kam er sich wie ein Geist oder ein zufälliger Rauchkringel vor – so körperlos, als könnte der Nachtwind ihn zu Nichts verwehen. Dann wieder war er ein Bündel verkrampftes Fleisch, dessen Empfindungsfähigkeit immer schärfer wurde, bis die Nachtkühle wie ein Messer über seine Haut zu streichen schien. Und der Satz des Pragma wurde trunken und stolperte und taumelte durch ein alptraumhaftes Zugleich aus Erregung, Verstörung und rasender Leidenschaft, das in ihm heulte – und zwar wie etwas Sterbendes.
Dann flammte der erste Morgenstrahl auf, und Kellhus war von der Schönheit des Gletschers tief ergriffen. Ein glühendes Orange erklomm die kalten Ebenen aus funkelndem Schnee und blitzendem Eis. Und für die Dauer eines Herzschlags entfiel ihm der Satz des Pragma, und er dachte nur, der Gletscher sei geformt wie der Rücken einer wundervollen Frau…
Der Pragma sprang herbei und schlug zu. Seine Miene war ganz vorgetäuschter Zorn, als er »Wiederhole deinen Satz!« schrie.
Für Kellhus war jeder Hohe Herr ein Rätsel, weil sie unzählige Verwandlungen durchliefen. In ihren Mienen sah er die Bruchstücke vieler Gesichter auftauchen, und bald schien ihm, die Züge der Menschen ringsum seien nur Momentaufnahmen eines – allerdings unendlich wandelbaren – Gesichts. Als Athjeäri mit Saubon stritt, erschien auf seinen finsteren Zügen für einen Moment Leweths Antlitz wie eine Bö. In der Art, wie Gothyelk seinen jüngsten Sohn ansah, schien jene Skepsis auf, die oft in Serwës Augen stand. All diese Menschen hatten die gleichen Leidenschaften, setzten sie aber zu verschiedenen Zeiten ganz verschieden ein und sorgten so dafür, dass sich ganz unterschiedliche Mikrogeschichten entwickelten. Zwar ist jeder dieser Männer – trotz oder vielleicht gerade wegen seines erbitterten Stolzes – für sich genommen so leicht zu manipulieren wie Leweth, überlegte Kellhus. In ihrer Gesamtheit hingegen sind sie unberechenbar.
Sie waren ein Labyrinth wie die Hunderttausend Gänge, und er musste es durchqueren, um sie unter seine Kontrolle zu bringen.
Und wenn dieser Krieg meine Fähigkeiten übersteigt? Was dann, Vater?
»Bist du am Schlemmen, Dunyain?«, fragte Cnaiür auf Scylvendisch, und seine Stimme klang bitter. »Frisst du dich an Gesichtern fett?« Proyas hatte sie verlassen, um mit Gotian zu beraten, und sie waren für einen Augenblick allein.
»Wir haben die gleiche Mission, Scylvendi.«
Bis jetzt hatten die Ereignisse seine kühnsten Erwartungen übertroffen. Seine Behauptung, aus königlicher Familie zu stammen, hatte ihm fast mühelos einen Platz in der herrschenden Kaste der Inrithi gesichert. Nicht nur hatte Proyas ihn mit all dem ausgestattet, was »für einen Prinzen unerlässlich« war – er hatte ihm zudem einen Ehrenplatz in der Lagerfeuerrunde seiner Berater zugewiesen. Solange man sich wie ein Prinz verhielt (hatte Kellhus festgestellt), wurde man wie einer behandelt. Schein verwandelte sich in Sein.
Seine zweite Behauptung aber, wonach er von Shimeh und dem Heiligen Krieg geträumt habe, hatte ihm eine ganz andere Position eingetragen, die viel gefährlicher war, aber auch weit größere Möglichkeiten barg. Einige spotteten offen über seine Behauptung; andere – wie Proyas und Achamian – sahen sie als mögliche Warnung, den ersten Anzeichen einer Krankheit vergleichbar; viele aber, die nach wenigstens einem Fünkchen göttlicher Zustimmung suchten, glaubten einfach daran. Doch alle gestanden Kellhus die gleiche Position zu.
Für die Völker im Gebiet der Drei Meere waren Träume – egal, wie banal – eine ernste Angelegenheit und nicht etwa (wie der Dûnyain gedacht hatte, ehe Moënghus ihn auf diesem Weg gerufen hatte) die bloße Verarbeitung der Ereignisse vom Tage oder das vorwegnehmende Durchspielen von Handlungsmöglichkeiten. Träume waren die Pforte, durch die das Jenseits in die Welt drang, und in ihnen fand, was über den Menschen räumlich und zeitlich hinausging und ins Dämonische oder Göttliche spielte, im Hier und Jetzt einen unvollkommenen Ausdruck.
Doch es reichte nicht, einfach zu sagen, man habe geträumt. Denn mochten Träume zwar mächtig sein – sie waren auch billig zu haben. Jeder träumte. Nachdem Proyas
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