Schattenfall
Die Aufforderung, nach Hause zurückzukehren, erstaunte ihn dagegen sehr. Als er nach den Gründen fragte, erfuhr er nur, das hänge mit den Tausend Tempeln zusammen – mit einer anderen Gruppe also und einem anderen Krieg, mit dem sie ebenfalls nichts zu tun hatten.
Noch eine bedeutungslose Mission, dachte er, als er seine wenigen Besitztümer einpackte.
Wie hätte er nicht zynisch sein sollen?
Im Gebiet der Drei Meere rangen alle Großen Gruppen mit realen Feinden um handfeste Ziele – nur die Mandati kämpften gegen einen unsichtbaren Widersacher um etwas, an das niemand glaubte. So waren sie in doppelter Hinsicht Außenseiter: als Hexenmeister und als Narren. Natürlich wussten die Mächtigen im Gebiet der Drei Meere (ob sie nun Ketyai oder Norsirai waren) von den Rathgebern und der Gefahr der Zweiten Apokalypse. Wie hätten sie, nachdem Gesandte der Mandati ihnen jahrhundertelang mit Warnungen in den Ohren gelegen hatten, nicht davon wissen sollen? Aber sie nahmen diese Warnungen nicht ernst.
Die Rathgeber waren nach Jahrhunderten des Kampfs gegen die Mandati einfach verschwunden. Weg! Niemand wusste, wie und warum, doch es hatte Spekulationen ohne Ende gegeben. Waren sie von unbekannten Kräften beseitigt worden? Hatten sie ihre Organisation freiwillig aufgelöst? Oder hatten sie einfach einen Weg gefunden, sich der Wahrnehmung ihrer Gegner zu entziehen? Es lag nun dreihundert Jahre zurück, dass die Mandati das letzte Mal auf Rathgeber gestoßen waren. Seither führten sie Krieg gegen einen Feind, der ihnen abhanden gekommen war.
Mitglieder des Mandati-Ordens reisten kreuz und quer durchs Gebiet der Drei Meere und jagten einem Widersacher hinterher, der verschwunden blieb und an dessen Existenz keiner glaubte. So sehr sie auch um den Besitz der Gnosis – der Zauberkunst des Alten Nordens – beneidet wurden, so sehr galten die Mandati an allen Höfen der Großen Gruppen als Witzfiguren und Scharlatane. Und doch besuchte Seswatha sie Nacht für Nacht, und jeden Morgen erwachten sie aus Alp träumen und dachten: Die Rathgeber sind unter uns.
Hat es je eine Zeit gegeben, fragte sich Achamian, da ich dieses innere Entsetzen nicht gespürt habe? Diese schwindelerregende Leere in der Magengrube, als hänge das Eintreten der Katastrophe von etwas ab, das ich vergessen habe? Immer wieder war da ein atemloses Flüstern: Du musst etwas unternehmen… Doch keiner im Orden wusste, was dieses etwas sein mochte, und solange sie das nicht herausgefunden hatten, war alles, was sie unternahmen, leerer Mummenschanz.
Immer wieder wurden sie nach Carythusal gesandt, um sich an hochrangige Sklaven wie Geshrunni heranzumachen. Oder (wie demnächst Achamian) zu den Tausend Tempeln – der Himmel mochte wissen, mit welchem Auftrag.
Die Tausend Tempel. Was konnten die Mandati dort wollen? Jedenfalls rechtfertigte es offenbar, den Kontakt zu Geshrunni abzubrechen, dem ersten richtigen Informanten, den sie seit einer Generation aus dem engeren Umkreis der Scharlachspitzen hatten rekrutieren können. Je mehr Achamian darüber nachdachte, desto ungewöhnlicher erschien ihm das.
Vielleicht wird diese Mission anders sein.
Der Gedanke an Geshrunni bereitete ihm plötzlich Sorgen. So niedrig dessen Motive auch gewesen sein mochten – er hatte weit mehr als sein Leben riskiert, um den Mandati ein großes Geheimnis zu verraten. Außerdem war er zugleich intelligent und von Hass zerfressen, mithin ein idealer Informant. Sie durften ihn nicht verlieren.
Nachdem er Tinte und Pergament wieder ausgepackt hatte, beugte Achamian sich über den Tisch und schrieb dem Hauptmann rasch eine kurze Nachricht:
Ich muss fort, doch uns ist klar, wie sehr du uns geholfen hast. Du hast Freunde gefunden, die die gleichen Ziele verfolgen wie du. Sprich mit niemandem. Wir melden uns demnächst bestimmt wieder. A.
Achamian bezahlte sein Zimmer beim pockennarbigen Hauswirt und streifte dann durch die Straßen, bis er Chiki – den Waisen, der für ihn Botengänge erledigte – schlafend in einer nahen Gasse fand. Der Junge hatte sich hinter einem mit schillernden Fliegen bedeckten Abfallhaufen in einen Hanfsack gemummelt. Von dem granatapfelförmigen Muttermal abgesehen, das sein Gesicht verunstaltete, sah er wunderschön aus: Seine dunkle Haut war trotz des Drecks ringsum samtweich wie die eines Delphins, und seine Züge waren zart wie bei einem Mädchen von Adel. Der Gedanke daran, wie der Junge sich ohne ihre armseligen kleinen Geschäfte über
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