Schattenfall
erzählt, alter Freund.«
»Ich vermisse ihn furchtbar, Seswatha. Wie sehr sehne ich mich an seine Seite zurück!«
Dem alten König rannen Tränen über die Wangen. Dann weiteten sich seine Augen. »Ich sehe ihn ganz deutlich. Er hat sich auf die Sonne geschwungen und reitet mitten unter uns. Ich sehe ihn! Er stürmt durch die Herzen meines Volkes, bringt sie zum Staunen, versetzt sie in Wut!«
»Pssst… Spart Eure Kräfte, mein König. Die Ärzte sind gleich da.«
»Er sagt so schöne Dinge, um mich zu trösten. Er sagt, einer meiner Nachkommen kehre zurück, Seswatha – einmal wird ein Anasûrimbor zurückkehren…« Ein Zittern durchfuhr ihn, und er atmete mit gequälter Miene aus. »Aber das wird am Ende aller Tage sein.«
Mit diesen Worten brachen die strahlenden Augen von Anasûrimbor Celmomas II. dem König von Kûniüri und Weißen Lord von Trysë. Zugleich sank die Abendsonne und tauchte den bronzegepanzerten Ruhm der Norsirai ins Zwielicht.
»Unser König!«, rief Achamian den gramgebeugten Männern zu, die sich um ihn gesammelt hatten. »Unser König ist tot!«
Doch alles war dunkel. Niemand stand in seiner Nähe, und kein König lag auf seinem Schoß. Verschwitzte Decken und eine gewaltige, geradezu dröhnende Abwesenheit waren an die Stelle des eben noch tobenden Schlachtgetümmels getreten. Sein Zimmer – er lag allein in seiner elenden Kammer.
Achamian verschränkte die Arme fest vor der Brust. Schon wieder einer dieser Träume, die wie ein gezücktes Schwert waren.
Dann legte er die Hände vors Gesicht und weinte, erst um einen seit langem toten König von Kûniüri, dann – viel ergiebiger – um andere Dinge, die erheblich ungewisser waren.
In der Ferne glaubte er ein Heulen zu hören. Das kam vermutlich von einem Hund. Oder von einem Menschen.
Geshrunni wurde durch stinkende Gassen geschleift und sah mit Schimmelflecken übersäte Mauern schwankend zum pechschwarzen Himmel streben. Er drosch unkontrolliert um sich und krallte die Finger an schmierige Ziegel. Trotz seines über und über blutigen Gesichts konnte er den Fluss riechen.
Mein Gesicht…
»Was willst du denn noch?«, wollte er schreien, konnte ohne seine Lippen aber kaum etwas hervorbringen. Ich hab dir doch alles erzählt!
Er hörte Stiefel durch Schlamm stapfen, dann ein Kichern über sich.
»Wenn dich das Auge deines Feindes ärgert, Sklave, dann reißt du es aus, oder?«
»Bitte… Erbarmen… bitte…«
»Erbarmen?«, lachte das Wesen. »Diesen Luxus leisten sich nur Memmen. Die Mandati haben viele Augen – und die gilt es alle auszureißen.«
Mein Gesicht! Was ist mit meinem Gesicht passiert?
Dann spürte Geshrunni sich im freien Fall – aber nur ganz kurz, denn gleich darauf fand er sein feuchtes Grab.
Achamian erwachte im ersten Frühlicht. Durch seinen verkaterten Schädel dröhnten Erinnerungen an das Gespräch vom Vorabend und an die Alpträume, die ihn auch diese Nacht heimgesucht hatten. Die üblichen apokalyptischen Visionen.
Hustend schwankte er von seinem Strohlager zum einzigen Fenster des Zimmers. Mit zitternden Händen öffnete er die lackierten Läden. Kalte Luft und graues Licht strömten herein. Die Paläste und Tempel von Carythusal wuchsen inmitten eines Labyrinths viel kleinteiligerer Strukturen gewaltig auf. Dichter Nebel lag über dem Sayut und trieb so schnell vom Fluss her in die Gassen und Hauptstraßen der Unterstadt, dass Achamian dabei an ein Grabensystem denken musste, das sich mit Wasser füllte. Vereinzelt und schmal wie Fingernägel ragten die Scharlachspitzen zum Himmel und erinnerten an verlassene Türme inmitten weißer Wüstendünen.
Achamian schluckte und blinzelte Tränen aus den Augen. Kein Feuer. Kein vielstimmiges Jammern und Klagen. Alles war still. Selbst die Scharlachspitzen täuschten eine gewaltige, atemberaubende Ruhe vor.
Diese Welt, dachte er, darf nicht untergehen.
Er wandte sich vom Fenster ab, ging zum Tisch, ließ sich auf den Stuhl fallen (wenn das alte Ding, das aus einem Wrack geborgen schien, diese Bezeichnung überhaupt verdiente), breitete eine Schriftrolle aus Pergament vor sich aus, tauchte die Feder ins Tintenfass und begann:
Die Furten von Tywanrae. Genauso.
Brand der Bibliothek von Sauglish. Anders. Sehe mein Gesicht im Spiegel, nicht das von S.
Eine merkwürdige Diskrepanz. Was mochte sie bedeuten? Er dachte einen Moment lang daran, wie vergeblich diese Frage war. Dann fiel ihm ein, dass er tief in der Nacht
Weitere Kostenlose Bücher