Schattenfall
aufgewacht war, und er setzte nach kurzer Überlegung hinzu:
Tod und Prophezeiung des Anasûrimbor Celmomas. Genauso.
Aber war es genauso gewesen? Im Detail gewiss, doch der Traum hatte eine beunruhigende Dringlichkeit gehabt, die ihn geweckt hatte. Er strich das Genauso und schrieb:
Anders. Mächtiger.
Während er wartete, dass die Tinte trocknete, ging er seine früheren Einträge bis zum oberen Ende der Schriftrolle durch. Jede Notiz löste bei ihm einen Wasserfall an Bildern und große Erregung aus und verwandelte die stumme Tinte in versprengte Weltausschnitte: Leichen, die durch Stromschnellen treiben; ein Liebhaber, dem Blut aus den Mundwinkeln tritt; Feuer, das steinerne Türme wie ein schamloser Tänzer umzüngelt.
Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. Warum war er so auf diese Aufzeichnungen fixiert? Andere, wesentlich bedeutendere Leute waren bei dem Versuch wahnsinnig geworden, die konfuse Sequenz der Seswatha-Träume und die anscheinend unberechenbaren Veränderungen ihrer Bestandteile zu entziffern. Ihm musste doch klar sein, dass er die Lösung nie finden würde! War es also eine Art perverses Vergnügen, um dessentwillen er sich wieder und wieder den Kopf zermarterte? Ein Spiel, wie seine Mutter es geliebt hatte, die seinen Vater, wenn er betrunken von den Booten zurückgekommen war, stets gepiesackt und gefuchst und nach dem Sinn seiner Sauftouren gefragt hatte (den es natürlich nicht geben konnte), um dann jedes Mal zurückzuzucken, wenn er die Hand hob, und aufzuschreien, wenn er unweigerlich zuschlug?
Warum auch noch dieses Piesacken und Fuchsen, wenn es schon schlimm genug war, das Leben Seswathas stets aufs Neue zu träumen?
Durchs Brustbein drang etwas Kaltes in ihn und griff nach seinem Herzen. Das alte Zittern brachte seine Hände zum Tanzen, und das Pergament entglitt ihm und rollte sich auf, obwohl die Tinte noch nicht trocken war. Aufhören… Er presste die Hände zusammen, doch das Zittern wanderte einfach in die Arme und weiter in die Schultern. Aufhören! Das Geheul von Sranc-Hörnern kam durchs offene Fenster. Er wich unter den Druckwellen von Drachenschwingen zurück, warf sich auf dem Stuhl hin und her und schlotterte am ganzen Körper.
»Aufhören!«
Er rang kurze Zeit nach Luft. Dann vernahm er in der Ferne das Hämmern eines Kupferschmieds und ringsum das Gezänk der Krähen auf den Dächern.
Hast du das gewollt, Seswatha? Soll es so sein?
Doch wie bei vielen Fragen, die er sich stellte, wusste er auch diesmal bereits die Antwort.
Seswatha hatte den Nicht-Gott und die Apokalypse überlebt und gewusst, dass der Konflikt noch nicht ausgestanden war. Die Scylvendi waren auf ihre Weidegründe zurückgekehrt, und die Sranc hatten sich zerstreut, um sich landauf, landab um die wenigen Reichtümer zu zanken, die auf der zerstörten Welt noch übrig waren, doch Golgotterath war unversehrt geblieben. Auf seinen schwarzen Mauern hielten die Rathgeber, die Diener des Nicht-Gottes also, noch immer Wache, und das mit einer Geduld, die die menschliche Beharrlichkeit so weit überragte, dass sie in keinem Epos besungen und von keiner heiligen Schrift eingefordert wurde. Mochte das geschriebene Wort auch unsterblich sein – der Sinn der zu Papier gebrachten Worte war es nicht. Seswatha hatte gewusst, dass die Erinnerung an seine Person mit jeder Generation weiter verblassen würde, bis eines Tages sogar die Apokalypse vergessen wäre. Deshalb war er bei seinem Tod ins Bewusstsein seiner Anhänger gefahren. Indem er sein furchtbares Leben in ihren Träumen immer aufs Neue durchlitt, hatte er einen wirksamen Weg gefunden, ihnen sein Vermächtnis als stets fortwirkenden Aufruf zum Handeln zu hinterlassen.
Ich bin zum Leiden bestimmt, dachte Achamian.
Er musste sich zwingen, den neuen Tag zu beginnen, ölte sein Haar und bürstete die weiße Stickerei sauber, die seine blaue Tunika zierte. Dann stellte er sich ans Fenster, aß Käse und altbackenes Brot, um seinen Magen zu beruhigen, und beobachtete dabei, wie die Sonne den Nebel über dem schwarzen Fluss Sayut verdunsten ließ. Dann richtete Achamian alles her, was er zur Nachrichtenübertragung brauchte, und berichtete den Gewährsleuten in Atyersus – der Zitadelle der Mandati –, was Geshrunni ihm am Abend zuvor erzählt hatte.
Ihre vergleichsweise desinteressierte Reaktion überraschte ihn nicht. Der geheime Krieg zwischen den Scharlachspitzen und den Cishaurim war schließlich nicht ihr Krieg.
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