Schattenfall
sogar die Gnosis aufs Spiel gesetzt hat, um seinen verräterischen Schüler zu schützen.«
Nautzera schenkte Simas ein seltenes Lächeln, und obwohl es einen heimtückischen Eindruck machte, schien es überaus am Platz. »Stimmt. So was wäre nicht hinnehmbar. Doch unser Erfolg, Simas, ist lange davon abhängig gewesen, unseren Kundschaftern vor Ort Autonomie zu gewähren. Wir haben immer darauf vertraut, dass diejenigen, die die Lage am besten kennen, die besten Entscheidungen treffen. Nun aber verweigern wir auf dein Drängen hin einem unserer Brüder das Wissen, das er braucht – Wissen, das sein Leben retten kann.«
Simas erhob sich unvermittelt und kam im Halbdunkel auf seinen Gesprächspartner zu. Obwohl er klein war und großväterlich wirkte, bekam Nautzera bei seinem Näherkommen eine Gänsehaut.
»Aber so einfach ist das doch nie, alter Freund, leider! Erst das Zusammenwirken von Wissen und Unwissenheit bürgt für die Klugheit unserer Entscheidungen. Glaub mir – wir haben bei dem, was wir Achamian an Informationen gegeben haben, Augenmaß bewiesen. Hab ich etwa falsch gelegen, als ich dir sagte, Inraus Seitenwechsel würde sich eines Tages noch als nützlich erweisen?«
»Nein«, gab Nautzera zu und dachte an die hitzigen Diskussionen, die sie vor zwei Jahren in dieser Angelegenheit geführt hatten. Er hatte damals befürchtet, Simas stelle sich bloß schützend vor einen ihm werten Schüler. Doch wenn Nautzera im Lauf der Jahre etwas über Polchias Simas gelernt hatte, dann, dass er so gerissen wie gefühllos war.
»Also vertrau mir in dieser Sache«, drängte Simas und legte Nautzera die tintenfleckige Hand begütigend auf die Schulter. »Aber jetzt komm, alter Freund. Wir haben noch jede Menge mühselige Pflichten zu erledigen.«
Simas hatte Nautzera offenbar überzeugt, denn der nickte beifällig. Mühselige Pflichten, allerdings. Wer auch immer ihre Informanten jagte, tat es mit erschreckendem Erfolg, der sich fast spielerisch einzustellen schien. Und das konnte nur eines bedeuten: Obwohl er die Qualen Seswathas Nacht für Nacht aufs Neue durchlebte, war einer aus dem Orden der Mandati zum Verräter geworden.
3. Kapitel
SUMNA
Wenn die Welt ein Spiel nach Gottes Regeln ist und Hexenmeister notorische Falschspieler sind –
von wem stammen dann die Regeln der Hexerei?
Zarathinius: Zur Verteidigung der arkanen Künste und Wissenschaften
VORFRÜHLING 4110, AUF DEM WEG NACH SUMNA
Im Meneanor-Meer gerieten sie in einen Sturm.
Wieder schrak Achamian aus einem Seswatha-Traum und schlang sich die Arme schützend um den Leib. Die alten Kriege, mit denen er sich im Schlaf herumzuschlagen hatte, schienen ihm mit der stock-dusteren Kabine, dem schwankenden Boden und dem dumpfen Geräusch mächtig anrollender Wellen unlösbar verbunden. Zusammengekauert lag er da und bemühte sich zitternd, seine Traumgestalten und die dunkle Schiffsumgebung auseinanderzuhalten. Wieder und wieder stürmten aus der Schwärze ringsum überraschte oder Schreckstarre Gesichter auf ihn zu, während sich in einiger Entfernung Gestalten in Bronzerüstungen durch die Dunkelheit zu quälen schienen. Auch einen Horizont meinte er zu erkennen, an dem nicht nur Rauch, sondern auch ein Drache aufstieg, dessen Schwingen aus Eisen schienen. Skafra…
Dann ein Donnerschlag.
An Deck hörte man die gegen den strömenden Regen gewappneten Nroni-Matrosen schreiend zu Momas flehen, dem Gott des Sturms, der See – und des Würfelspiels.
Die Nroni-Kaufleute gingen vor dem Hafen von Sumna, dem alten Glaubenszentrum der Inrithi, auf Reede. Achamian lehnte an der verwitterten Reling und sah das Lotsenboot durch die Wogen gerudert kommen. Die große Stadt dahinter war nur undeutlich auszumachen, doch er konnte die Umrisse der Hagerna erkennen. Dieser ausgedehnte Tempel-, Kornspeicher- und Kasernenbezirk bildete das administrative Herz der Tausend Tempel, und in seiner Mitte wiederum erhob sich die legendäre Bastion der Junriüma, das oberste Heiligtum des Stoßzahns.
Achamian spürte, dass all diese Gebäude Anziehungskraft ausstrahlen und dem Betrachter erhabene Größe vermitteln sollten, doch aus der Entfernung schienen sie ihm stumm, ja nichtssagend. Nur ein paar Steinhaufen unter vielen. Für die Inrithi war dies der Ort, wo sich Himmel und Erde berührten. Sumna, die Hagerna und die Junriüma waren weit mehr als nur geographische Orte – sie waren aufs engste mit Sinn und Zweck der Geschichte
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