Schattenfall
fand er Simas bei gedämpftem Licht über ein altes Manuskript gebeugt. Im Lampenlicht glitzerte ein Rinnsal verschütteter Tinte, und Nautzera glaubte einen Moment lang, es handele sich um Blut. Er beobachtete den ganz in den Text versunkenen Mann kurz, und Ärger keimte in ihm auf. Warum beneidete er Simas so? Weil er noch immer gute Augen hatte, während Nautzera – wie viele andere – darauf angewiesen war, dass ihm seine Schüler vorlasen?
»In der Schreibstube ist das Licht besser«, sagte er.
Simas zuckte zusammen, blickte ruckhaft auf und spähte mit freundlichem Gesicht ins Halbdunkel. »Tatsächlich? Aber ich schätze, hier habe ich die bessere Gesellschaft.«
Solche geistreich-ironischen Bemerkungen waren typisch für ihn, der letztlich durchaus berechenbar war. Oder war auch das nur vorgetäuscht – wie der Anflug tatteriger Vornehmheit, mit der er seine Schüler zu entwaffnen pflegte?
»Wir hätten es ihm sagen sollen, Simas.«
Der alte Mann runzelte die Stirn und kratzte sich geistesabwesend den Bart. »Was? Dass Maithanet die Gläubigen bereits zusammengerufen hat, um den Gegner seines Heiligen Krieges zu verkünden? Dass die Hälfte der Mission ein bloßer Vorwand ist? Achamian wird das früh genug feststellen.«
»Nein.« Diese Dinge hatten sie ihm verschweigen müssen, um ihm den Verrat an seinem Schüler irgend erträglich zu machen.
Simas nickte und seufzte tief. »Dann machst du dir also über die andere Sache Sorgen. Wenn wir eins von den Rathgebern gelernt haben, alter Freund, dann dies: Unwissenheit ist ein sehr wirksames Werkzeug.«
»Wissen aber auch. Sollen wir ihm die Werkzeuge verweigern, die er braucht? Was passiert, wenn er leichtsinnig ist? Ohne echte Gefahr werden die Leute oft leichtsinnig.«
Simas schüttelte wegwerfend den Kopf. »Aber er reist doch nach Sumna, Nautzera. Hast du das schon vergessen? Da wird er sicher aufpassen. Welcher Hexenmeister wäre im Zentrum der Tausend Tempel nicht vorsichtig, hmm? Vor allem heutzutage.«
Nautzera schürzte die Lippen und schwieg.
Simas richtete sich auf, als wollte er sich voll aufs Gespräch konzentrieren, und musterte Nautzera scharf. »Du hast neue Nachrichten bekommen«, sagte er schließlich. »Es ist noch jemand tot.«
Simas hatte stets die unheimliche Fähigkeit besessen, den Grund für Nautzeras Stimmungen treffsicher zu erraten.
»Noch schlimmer«, entgegnete der. »Es wird jemand vermisst. Parthelsus hat heute Morgen berichtet, sein wichtigster Informant am Hofe der Tydonni sei spurlos verschwunden. Unsere Kundschafter werden gejagt, Simas.«
»Da stecken bestimmt die dahinter.«
Diel Nautzera zuckte die Achseln. »Oder die Scharlachspitzen. Oder sogar die Tausend Tempel. Vergiss nicht, dass die Kundschafter des Kaisers in Sumna offenbar ein ähnliches Schicksal erleiden… So oder so – Achamian hätte davon erfahren sollen.«
»Warum bist du bloß so heikel, Nautzera! Wer auch immer uns da angreift, ist entweder zu ängstlich oder zu schlau, es direkt zu tun. Statt unsere wichtigsten Hexenmeister zu attackieren, erledigen sie unsere Informanten, unsere Augen und Ohren im Gebiet der Drei Meere also, um uns so – warum auch immer – taub und stumm zu machen.«
Obwohl ihm die furchtbaren Auswirkungen dieser Strategie klar waren, konnte Nautzera die Verbindung nicht erkennen. »Und?«
»Drusas Achamian ist viele Jahre mein Schüler gewesen. Ich kenne ihn. Er benutzt andere, wie Kundschafter das tun müssen, doch er hat nie Gefallen daran gefunden, obwohl Kundschafter das unbedingt sollten. Von Natur aus ist er ungewöhnlich… offen. Schwach.«
Nautzera hatte Achamian stets für schwach gehalten, doch welche Auswirkung konnte das auf ihre Verpflichtungen ihm gegenüber haben? »Ich bin zu müde für deine Rätsel, Simas. Sag bitte klipp und klar, was du meinst.«
Simas warf Nautzera einen verärgerten Blick zu. »Rätsel? Ich hatte den Eindruck, mich ziemlich klar ausgedrückt zu haben.«
Endlich zeigst du mal dein wahres Ich, »alter Freund«.
»Ich will auf Folgendes hinaus«, fuhr Simas fort. »Achamian befreundet sich mit denen, die er benutzt, Nautzera. Wenn er wüsste, dass seine Informanten verfolgt werden, würde er zögern, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Vielleicht noch wichtiger: Wenn er wüsste, dass selbst Atyersus unterwandert ist, würde er die Informationen, die er uns geben soll, womöglich zensieren, um seine Informanten zu schützen. Vergiss nicht, dass er gelogen hat, Nautzera! Dass er
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