Schattenfall
und seine Glieder erstarren ließen.
Kaum hatte er die ramponierte Fassade der Taverne gesehen, blickte er schon durch ein Fenster ins verrauchte Lokal, über dessen Tischen ein milder Goldschimmer lag, während die niedrige Decke mit ihren durchgehenden Balken auf dem Raum lastete. Als er die Schenke betrat, fühlte er sich sofort überwältigt. Der Boden schien sich zu senken und ihn auf eine unheilvolle Schwärze in der hintersten Ecke des Lokals zuzutreiben. Kaum dort angekommen, öffnete sich ein weiterer Eingang. Die ganze Umgebung verwandelte sich nun in den bärtigen Mann, dessen Kopf träge und aufwärts blickend an einer rissigen Wand lehnte, in dessen harter Miene aber eine verbotene Verzückung stand. Er machte heftige Kaubewegungen, bei denen ab und an Lichtstrahlen aus seinem Mund fielen, und in seinen Augen schienen Sonnensplitter zu stehen.
Achamian…
Dann wurde aus dem unerträglichen Gemurmel ein lautes Hallo der Gäste; das dämmrige Innere der Taverne bekam klare Konturen und verlor seine geheimnisvolle Atmosphäre; die alptraumhaft verschatteten Winkel verwandelten sich in sauber ausgeleuchtete Rechtecke; Licht und Schatten tauschten nicht mehr ständig und unberechenbar die Plätze.
»Was machst du hier?«, fragte Inrau stotternd und bemühte sich um einen klaren Kopf. »Begreifst du eigentlich, was in Sumna vorgeht?« Er ließ den Blick durch die verrauchte Taverne schweifen und entdeckte weiter hinten an einem Ecktisch ein paar Tempelritter. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt.
Achamian musterte ihn verdrossen. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Junge.«
Inrau sah ihn finster an. »Nenn mich nicht so.«
Achamian lächelte. »Wie soll ein Onkel seinen geliebten Neffen…« – bei diesem Wort zwinkerte er ihm zu – »… denn sonst nennen, Junge?«
Inrau atmete vernehmlich aus und lehnte sich im Stuhl zurück. »Ich freue mich, dass du gekommen bist… Onkel Akka.« Das war nicht gelogen. Trotz der ungünstigen Umstände tat es wirklich gut, ihn zu sehen. Eine Zeitlang hatte Inrau sehr bereut, seinen alten Lehrer verlassen zu haben, denn Sumna und seine Heiligtümer hatten ihn enttäuscht – jedenfalls bis zur Wahl Maithanets zum Tempelvorsteher.
»Ich hab dich vermisst«, fuhr Inrau fort, »aber Sumna…«
»… ist nicht gerade ein empfehlenswerter Aufenthaltsort für einen wie mich – ich weiß.«
»Warum bist du dann gekommen? Von den Gerüchten hast du doch sicher erfahren.«
»Ich bin nicht einfach ›gekommen‹, Inrau.« Achamian hielt inne. Seine Miene war plötzlich besorgt. »Man hat mich geschickt.«
Den jungen Mann überlief ein Schauer. »Bitte nicht – sag mir…«
»Wir müssen erfahren, was dieser Maithanet im Sinn hat«, erklärte Achamian gepresst. »Wir müssen herausfinden, was es mit seinem Heiligen Krieg auf sich hat. Das verstehst du doch, oder?«
Er trank seinen Wein auf einen Zug und wirkte für einen Moment gebrochen. Doch das plötzliche Mitgefühl, das Inrau für den Mann empfand, der in vieler Hinsicht sein Vater geworden war, trat hinter dem schwindelerregenden Eindruck zurück, dass es eigentlich keinen Grund für dieses Mitleid gab. »Aber du hast es versprochen, Akka – versprochen.«
In den Augen des Mandati standen Tränen – abgeklärte Tränen, die dennoch von tiefem Bedauern zeugten.
»Die Welt hat es sich inzwischen leider zur Gewohnheit gemacht«, antwortete Achamian, »meinen Versprechen das Rückgrat zu brechen.«
Obwohl Achamian gehofft hatte, Inrau das Bild eines Lehrers vermitteln zu können, der seinen früheren Schüler endlich als seinesgleichen anerkennt, zehrte dauernd eine unausgesprochene Frage an ihm: Was mach ich hier eigentlich gerade?
Beim Betrachten des jungen Mannes flammte in Achamian plötzlich heftige Zuneigung auf. Nun, da Inraus Kopf nach Sitte der Nansur kahlgeschoren war, dominierte die Adlernase sein Gesicht merkwürdig stark. Seine Stimme aber war vertraut – jedenfalls insoweit sie immer unsicherer wurde, je mehr er sich in einander widersprechende Vorstellungen verstrickte. Und auch seine Augen waren ganz die alten: überschwänglich, weit aufgerissen, glasig braun und ständig am Rand ehrlichen Selbstzweifels. Inrau hat mehr als andere darunter leiden müssen, mit dem Talent der Wenigen begabt zu sein, überlegte Achamian. Seinem Temperament nach nämlich war er der ideale Priester der Tausend Tempel. Und seine selbstlose Offenheit und stürmische Leidenschaft hätten die Mandati ihm bald
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