Schattenfall
verschiedener Dufthölzer zog durch die Flure und umgab die Fackeln mit einem irisierenden Schleier, der Proyas an einen Heiligenschein denken ließ. Irgendwo übte ein Chor religiöse Lieder.
»Entschuldigt, Lord Gotian«, gab Proyas zurück. »Es war ein ganz außerordentlicher Tag.«
»Allerdings, mein Prinz«, sagte der silberhaarige Hochmeister mit einem weisen Lächeln. »Und er wird gleich noch außerordentlicher werden.«
Ehe Proyas fragen konnte, was sein Führer damit sagen wollte, öffnete sich der Säulengang zu einem großen, von gewaltigen Pfeilern gerahmten Saal… nein, nicht zu einem Saal, sondern auf einen Innenhof. Sonnenlicht fiel durch die in großer Höhe verlaufenden Balken einer Pergola, durchdrang das Halbdunkel mit diagonalen Strahlen und schickte leuchtende Finger zwischen die Pfeiler an der Westseite. Proyas blinzelte, sah über den abgesackten Mosaikboden des Hofs und…
Ist denn das möglich?
Er fiel auf die Knie.
Der Stoßzahn!
Ein großes, krummes Horn aus Elfenbein hing – halb in der Sonne, halb im Schatten – an Ketten, die sich zwischen den Pfeilern im düsteren Halbdunkel verloren.
Der Stoßzahn! Das Allerheiligste!
Ölglänzend und mit zeilenweise umlaufender Inschrift erinnerte er an die tätowierten Gliedmaßen einer Gierra-Priesterin.
Die ersten Verse der Götter, die erste Heilige Schrift – hier, vor seinen Augen!
Hier.
Nach einem Moment atemlosen Staunens spürte Proyas, wie Gotian ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Mit Tränen in den Augen sah er zum Hochmeister auf.
»Danke«, sagte er, und das Ungeheure ringsum ließ ihn flüstern. »Danke, dass Ihr mich hierher gebracht habt.«
Gotian nickte und ließ ihn allein, damit er in Ruhe beten konnte.
Triumph und Bedauern wirbelten gleichermaßen durch Proyas’ Gedanken: Er dachte an seinen Sieg über die Tydonni in der Schlacht von Paremti, aber auch an die hasserfüllten Worte, die er seinem älteren Bruder in der Woche vor seinem Tod an den Kopf geworfen hatte. Es schien, als würden hier endlich verborgene Zusammenhänge ans Licht kommen, so dass all diese Ereignisse im Glanz des Moments zusammentraten. Sogar die Jahre, die er als Kind bei seinem Lehrer Achamian verbracht hatte – wie oft hatte er sich über den ewigen Drill geärgert, wie oft aber auch über seine netten Scherze gelacht! –, selbst diese Jahre hatten ihren Platz in der Vorgeschichte dieses erhabenen Moments vor dem Stoßzahn.
Ich unterwerfe mich deinem Wort, Gott. Ich weihe meine Existenz der schwierigen Aufgabe, die du mir auferlegt hast. Ich werde das Schlachtfeld zu einem Tempel machen.
Das Geräusch von Vögeln, die unter Dachvorsprüngen toben. Der Geruch von Sandelholz in kristallklarer Luft. Sonnenlicht, das in Streifen zur Erde strömt. Und der zwischen mächtigen Pfeilern schwebende Stoßzahn. Reglos. Lautlos.
»Wenn man den Stoßzahn zum ersten Mal sieht, zerreißt es einem das Herz, stimmt’s?«, fragte eine kräftige Stimme hinter ihm.
Proyas drehte sich um, und obwohl er geglaubt hatte, längst aus dem Alter heraus zu sein, in dem man schwärmt, musste er den Mann hinter sich bewundernd anblicken. Maithanet. Der neue, unbestechliche Vorsteher der Tausend Tempel. Der Mann, der den Völkern im Gebiet der Drei Meere durch einen Heiligen Krieg Frieden bringen würde.
Ein neuer Lehrer.
»Von Anfang an ist er auf unserer Seite gewesen«, fuhr Maithanet fort und blickte ehrfürchtig auf den Stoßzahn. »Er ist unser Wegweiser, unser Ratgeber und unser Richter. Er ist es, der uns wirklich erkennt – auch das, was wir verbergen und verleugnen.«
»Ja«, sagte Proyas, »das spüre ich.«
»Halte dieses Gefühl in Ehren, Proyas. Bewahre es in deinem Herzen und vergiss es nie. Denn in den Tagen, die da kommen, werden dich viele bestürmen, die dieses Gefühl vergessen haben.«
»Wie meinen Euer Gnaden?«
Maithanet trat neben ihn. Er hatte sein aufwendiges, über und über mit Gold besetztes Gewand gegen eine einfache weiße Kutte getauscht. Jede seiner Bewegungen und Posen – so schien es Proyas – vermittelte das Gefühl von Unabänderlichkeit, als seien all seine Handlungen längst bis ins Detail festgelegt.
»Ich spreche vom Heiligen Krieg, Proyas, dem großen Stahlbad, das der Letzte Prophet angekündigt hat. Viele werden versuchen, diesen Krieg für eigennützige Zwecke zu missbrauchen.«
»Ich habe schon Gerüchte gehört, wonach der Kaiser…«
»Und es wird sicher noch andere geben«, sagte
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