Schattenfall
Maithanet, und seine Stimme klang so traurig wie gereizt. »Ordensleute…«
Proyas fühlte sich gemaßregelt. Nur sein Vater, der König, hatte ihn je zu unterbrechen gewagt, und auch das nur, wenn er etwas Dummes gesagt hatte. »Ordensleute, Euer Gnaden?«
Der Tempelvorsteher wandte ihm sein vollbärtiges Profil zu, und Proyas war vom klaren Blau seiner Augen beeindruckt. »Sag mir, Nersei Proyas«, fragte Maithanet herrisch, »wer war eigentlich dieser Hexenmeister, der es gewagt hat, meine Aura zu besudeln?«
4. Kapitel
SUMNA
Unwissend zu sein und betrogen zu werden, sind zweierlei. Der Unwissende ist aller Welt Sklave, der Betrogene dagegen der Sklave eines anderen. Warum – wenn doch alle Menschen unwissend und deshalb ohnehin Sklaven sind –, warum wurmt es uns dann so, obendrein betrogen zu werden?
Ajencis: Beiträge zur Erkenntnistheorie
Doch trotz mancher Geschichten über Gräueltaten der Fanim waren die Kianene – ob Heiden oder nicht – erstaunlich tolerant gegenüber den nach Shimeh pilgernden Inrithi, jedenfalls vor Beginn des Heiligen Krieges. Warum hat ein Volk, das auf die Zerstörung des Stoßzahns eingeschworen ist, seine Toleranz auf »Götzendiener« ausgedehnt? Teilweise vielleicht um der Handelsbeziehungen willen, wie mancher nahegelegt hat. Doch der eigentliche Grund liegt in ihrem Wüstenerbe: In der Sprache der Kianene heißt eine heilige Stätte si’ihkhalis, was wörtlich »große Oase« bedeutet – und es ist unumstößlicher Brauch der Kianene, Reisenden in der Wüste niemals Wasser vorzuenthalten, auch dann nicht, wenn es sich bei den Reisenden um Feinde handelt.
Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs
Am Himmelfahrtstag des Jahres 4110 rief Maithanet, der 116. Vorsteher der Tausend Tempel, den Heiligen Krieg der Inrithi gegen die Fanim aus. An diesem Tag war es ungewöhnlich heiß, als habe Gott selbst die Verkündung dieses Krieges mit einer Vorahnung von Sommer segnen wollen. Überall im Gebiet der Drei Meere schwirrten Gerüchte umher, die von Vorzeichen und Visionen wissen wollten und allesamt die Heiligkeit der Aufgabe bezeugten, die vor den Inrithi lag.
Die Kriegserklärung verbreitete sich schnell. In jedem Land wetterten Priester der Tausend Tempel gegen die Gräuel und Missetaten der Fanim. Wie – so fragten sie – konnten die Inrithi sich als gläubig bezeichnen, wenn sich die Stadt des Letzten Propheten noch immer in der Hand der Heiden befand? Durch Beschimpfungen und glühende Strafpredigten rückten sie den Mitgliedern der Inrithi-Gemeinden die fernen Sünden des fremden und exotischen Volks der Fanim erst lebhaft vor Augen und behaupteten rundheraus, wer diese Sünden hinnehme, mache sich mitschuldig. Wer Missetaten dulde – so predigten sie –, schaffe wahre Brutstätten des Lasters. Wer es versäume, seinen Garten zu jäten, sei genauso schlimm wie einer, der Unkraut züchte. Die Inrithi gewannen den Eindruck, aus kaufmännischer Herzensträgheit gerüttelt zu werden und bisher unter einer unerklärlichen Lauheit des Glaubens gelitten zu haben. Wie lange noch würden die Götter Geduld mit einem Volk haben, dessen Herz so käuflich war wie der Körper einer Hure? Einem Volk, das sich gern und begeistert von materiellem Behagen hatte betäuben lassen? Wann würden die Götter sich von den korrupten Inrithi abwenden oder – schlimmer noch – ihren lodernden Zorn auf sie richten?
Auf den Straßen der Großstädte raunten Händler ihren Kunden Gerüchte zu, wonach sich dieser oder jener Potentat zum Stoßzahn bekannt habe. In den Tavernen diskutierten Veteranen, welcher ihrer Herren der Frömmste sei. Am heimischen Herd lauschten Kinder großäugig, ehrfürchtig und ängstlich den Worten ihrer Väter, die die Fanim als abscheuliches und erbärmliches Volk beschrieben, das einen himmlisch reinen und unglaublich wunderbaren Ort namens Shimeh besudelt habe. Nachts fuhren diese Kinder dann immer wieder schreiend aus dem Schlaf und stammelten zwischen Heulkrämpfen etwas von augenlosen Cishaurim, die sich der Sehkraft von Schlangen bedienten. Wenn sie tagsüber in den Straßen oder auf den Feldern spielten, mussten die kleineren Geschwister stets die Heiden sein, damit die älteren Brüder und Schwestern sie mit zu Schwertern erklärten Stöcken verprügeln konnten. Und im Dunkeln erzählten Ehemänner ihren Frauen das Neueste vom Heiligen Krieg und verbreiteten sich feierlich flüsternd darüber, welch
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