Schattenfall
Augen.
Dass er ohne Gebrauch von Zauberformeln Erfolg gehabt hatte, linderte seine Schmach ein wenig. Er hätte sie mit Sicherheit eingesetzt, wenn Inrau sich geweigert hätte. Achamian gab sich keinen Illusionen hin. Wenn er den Auftrag, Inrau anzuwerben, nicht erfüllt hätte, würden die Mitglieder des Quorums jetzt schon auf Mittel und Wege sinnen, Inrau zu töten. Für Männer wie Nautzera war er ein Abtrünniger, und alle Abtrünnigen hatten zu sterben: So einfach war das. Die Gnosis – selbst die wenigen Grundlagen, die Inrau kannte – war wertvoller als das Leben jedes Einzelnen.
Doch wenn er Zauberformeln verwendet hätte, die beim Opfer inneren Zwang erzeugten, hätten die Luthymae – das Kollegium der Mönche und Priester, das für das Kundschafternetzwerk der Tausend Tempel verantwortlich war – das Mal der Hexerei früher oder später an Inrau entdeckt. Nicht alle, die zu den Wenigen gehörten, wurden Hexer; viele nutzten ihre »Gabe« im Gegenteil dazu, die Orden zu bekämpfen. Die Luthymae jedenfalls würden Inrau töten, wenn sie an ihm ein Mal entdecken sollten, das sein Verhextsein zeigte – dessen war Achamian sicher, weil er schon Kundschafter an die Luthymae verloren hatte.
Mit solchen Zauberformeln hätte er lediglich Zeit gewinnen können – Zeit und die Überzeugung, einen nie wieder gut zumachenden Verrat begangen zu haben.
Vielleicht hatte Inrau ja darum eingewilligt, Informant zu werden. Vielleicht war ihm klar gewesen, welche Falle das Schicksal und Achamian ihm gestellt hatten. Vielleicht hatte er nicht gefürchtet, was ihm geschehen würde, wenn er sich weigerte, sondern was seinem alten Lehrer geschähe. Achamian hätte die Zauberformeln angewendet und Inrau in eine Marionette verwandelt – und wäre darüber wahnsinnig geworden.
Priester in weißen, goldbesetzten Gewändern kamen – goldene Nachbildungen des Stoßzahns in Händen – im Viererglied durchs Vordertor marschiert. Die Stoßzähne funkelten im Sonnenlicht. Aus dem dumpfen Gemurmel der Menge lösten sich einzelne heisere Schreie und schwollen bald zu einer hellen Flut an. Immer näher rückten die Leute rings um Achamian zusammen, dem vom steten Vorwärtsdrang der Masse schon der Rücken wehtat. Was blieb ihm übrig, als weiter nach vorn zu stolpern? Er legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Die Luft roch nicht gut. Der Himmel am Rand seines Blickfelds schien zu verschwimmen. Achamian blinzelte Schweiß aus den Augen und blickte weiter offenen Mundes aufwärts, als trennten ihn nur Zentimeter von der Oberfläche, unter der die Dünste von Tausenden zurückbleiben und über der ein reiner Himmel seiner warten würde. Jetzt waren die Stimmen laut wie Donnerhall. Er sah nach vorn und hatte die Junriüma direkt vor sich. Durch einen Wald jubelnd hochgereckter Arme sah er Maithanet aus der Festung treten.
Der neue Tempelvorsteher war eine beeindruckende Gestalt – unwahrscheinlich, dass es unter den Norsirai jemanden gab, der größer gewachsen war. Er trug eine steife weiße Robe und einen schwarzen Vollbart. Verglichen mit ihm wirkten die Priester an seiner Seite effeminiert. Plötzlich wollte Achamian unbedingt seine Augen sehen, doch dafür war die Entfernung zu groß.
Inrau hatte ihm erzählt, Maithanet sei aus dem tiefen Süden gekommen, aus Cingulat oder Nilnamesh, wo der Einfluss der Tausend Tempel recht schwach war. Zu Fuß war er als einsamer Inrithi durchs heidnische Kian gewandert und hatte Sumna weniger erreicht als sich der Stadt bemächtigt. Der ermatteten Führungsriege der Tausend Tempel hatte seine geheimnisvolle Herkunft als Vorteil gegolten. Wer es zum ranghohen Mitglied der Tempel gebracht hatte, galt seit langem schlicht als korrupt, und diesen Ruch hatten weder eine reine Überzeugung noch ein lauteres Herz überdecken können.
Die Tausend Tempel hatten Maithanet gerufen, und Maithanet war gekommen.
Ob die Rathgeber schon seit geraumer Zeit wissen, welcher Mangel an überzeugenden Führungsgestalten bei den Tausend Tempeln herrscht? Ob sie Maithanet eigens dazu ausgebildet haben, diese Lücke zu füllen?
Seine Gedanken gingen in der feuchten Aussprache der nun wie aus einer Kehle brüllenden Masse unter. Nach dem kollektiven Aufschrei zitterte die Luft noch sekundenlang nach. Achamian hatte das Gefühl, die Welt ringsum würde von den Augenwinkeln her schwarz, und er spürte, dass sein Oberkörper und sein Gesicht eiskalt waren. Der Lärm der Menge schwoll ab. Er hörte ein
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