Schattenfall
sollte, da doch die Orden das Geschwür in ihrer Mitte waren. Warum wollten sie sich auf ein anderes Volk stürzen, wenn die eigentliche Gefahr von Teilen der eigenen Gesellschaft ausging? Und warum riskierten sie einen Heiligen Krieg, den sie nicht gewinnen konnten?
Ein unendlich fern wirkendes Bauwerk aus Stein, in dem Achamian erst spät die Festung Junriüma erkannte, schob sich vor die Sonne. Leute legten ihn behutsam auf schattige Stufen. Er spürte Wasser über sein Gesicht strömen und seine Lippen netzen, hob den Kopf und sah eine Wand von Menschen, die mit hochroter Miene Forderungen skandierten und dabei die Arme erhoben hatten.
Sie wollen Shimeh… Shimeh. Die Orden waren nie in Gefahr.
Jeder Quadratzentimeter des Platzes schien vom euphorischen Jubel der Versammelten erfüllt, doch zwischen den Leuten auf den schattigen Stufen bestand eine gewisse Intimität. Achamian warf den anderen, die wie er im Zustand völliger Erschöpfung aufgehoben und über die Köpfe der Menge hinweg hierher transportiert worden waren, einen kurzen Blick zu, doch alle starrten erschrocken auf etwas, das sich ein paar Stufen höher befinden musste. Als Achamian hochsah, wunderte er sich über den ramponierten Stiefel, der nur wenig von ihm entfernt war, blickte das zugehörige Bein entlang und landete bei den Weichteilen eines Mannes, der vor dem Knie eines anderen kniete. Der Mann weinte, blinzelte seine Tränen weg und bemerkte ihn dann. Tief erschrocken sah Achamian, dass seine Miene sich wiedererkennend weitete und dann ungeheuer wütend verfinsterte. Es war klar, woher diese Wut rührte: Ein Hexenmeister! Hier! Achamian aber dachte: Proyas!
Ja, das war Prinz Nersei Proyas von Conriya – ein weiterer Schüler, den er sehr geliebt hatte. Vier Jahre lang hatte Achamian ihn in den nichtmagischen Künsten unterrichtet.
Doch ehe sie ein paar Worte wechseln konnten, wurde der Prinz, der noch immer starr dreinblickte, beiseite geführt, und Achamian sah in das heitere und erstaunlich jugendliche Gesicht Maithanets.
Während die Masse brüllte, herrschte zwischen den beiden eine unheimliche Stille.
Die Miene des Tempelvorstehers verdüsterte sich, doch in seinen blauen Augen lag ein schwer zu deutendes Glitzern.
Er sagte leise und wie zu einem Vertrauten: »Deinesgleichen ist hier unerwünscht, Freund. Flieh.«
Und Achamian floh. Welche Krähe würde den Kampf mit dem Löwen wagen? Als er sich erschöpft und nah am Nervenzusammenbruch durch die Masse der Inrithi arbeitete, dachte er in kaltem Entsetzen den immer gleichen Gedanken:
Er erkennt die Wenigen!
Dabei konnten doch nur die Wenigen einander erkennen…
Maithanet packte Proyas am Arm. Um den gebrüllten Lobpreis der Massen zu übertönen, flüsterte er ihm laut ins Ohr: »Ich muss vieles mit Euch besprechen, mein Prinz.«
Proyas, der noch ganz unter dem Schock der Begegnung mit seinem alten Lehrer stand und vor Wut schäumte, wischte sich die Tränen von den Wangen und nickte benommen.
Maithanet winkte ihm, Gotian zu folgen, dem berühmten Hochmeister der Tempelritter, der ihn von der schillernden Prozession der Priester wegführte und tief in die wie Katakomben wirkenden Gänge der Junriüma geleitete. Gotian wagte ein paar freundliche Bemerkungen, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, doch Proyas dachte immer nur: Achamian, du alter Schuft! Wie konntest du diesen Skandal provozieren!
Wie viele Jahre waren seit ihrer letzten Begegnung vergangen? Vier, vielleicht sogar fünf? Seither hatte er ununterbrochen versucht, sein Herz vom Einfluss Achamians zu reinigen, und es schließlich so weit gebracht, zu Füßen des Heiligen Oberhaupts zu knien, zu spüren, wie seine Herrlichkeit ihn wie ein goldener Schwall überflutete, sein Knie in einem Moment reiner, absoluter Unterwerfung unter Gottes Willen zu küssen…
… nur um eine Stufe tiefer Drusas Achamian schlottern zu sehen! Dieser reulose Gotteslästerer hatte sich in die Nähe der herrlichsten Persönlichkeit gedrängt, die in den letzten tausend Jahren auf Erden gewandelt war – in die Nähe Maithanets, des Großen Tempelvorstehers, der Shimeh befreien und das Joch der Kaiser und Heiden von denen nehmen würde, die an den Letzten Propheten glaubten.
Einst hob ich dich als Lehrer geschätzt und verehrt, Achamian. Aber was du dir hier geleistet hast, ist untragbar.
»Ihr scheint bekümmert, mein Prinz«, sagte Gotian schließlich und führte ihn einen weiteren Gang entlang. Der aromatische Rauch
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