Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
Vom Netzwerk:
auf.
    »Du wirst klein beigeben!«, hörte er das Mischwesen schreien.
    Niemals.
    Inrau funkelte das hassenswerte Geschöpf wütend an und begann, eine weitere Zauberformel zu sprechen. Zu spät merkte er, dass das Mischwesen die Pupillen auf ihn gerichtet hatte und mit gebündelter Sonnenenergie nach ihm zielte.
    Wie tausend Speere prasselte das Licht auf ihn ein. Was von Inraus Bannkreis übrig war, zersplitterte in kleinste Stücke und bildete eine Staubwolke, die ihm die Sicht raubte. Dann wurde seiner Beschwörung kurzerhand der Garaus gemacht, indem die Luft ringsum eine erstickende, wasserartige Konsistenz annahm. Er merkte, dass er ein gutes Stück überm Fußboden den Balkonumgang des Mittelschiffs entlangtrieb. Silberne Luftblasen stiegen schwallweise aus seinem aufgesperrten Mund Richtung Tempeldecke auf. Es schien, als wollte ihn ein Meer unter tonnenschwerem Gewicht begraben.
    Zunächst war er ruhig. Er beobachtete, wie das Mischwesen auf der Schulter des Tempelritters landete und ihn mit winzigen blauen Knopfaugen ansah, und bewunderte das mit dunkelroten Spuren durchsetzte Schwarz seines Gefieders. Dann aber dachte er an den glücklosen Achamian, der sich der Gefahr nicht bewusst war.
    Ach, Akka! Es ist schlimmer ab du dir vorzustellen wagtest!
    Doch es war nichts zu machen.
    Während sich seine Kehle immer weiter zuschnürte, kehrten Inraus Gedanken zur Göttin zurück, zu ihrer Treulosigkeit und zu der seinigen. Doch sein Herz pumpte ihm immer mehr Druck in den Schädel, bis seine Lippen sich verzogen und öffneten. Dann stürzte der Wahnsinn auf ihn ein, und Inrau war sich plötzlich sicher, er könnte irgendwo auftauchen und endlich wieder atmen. Ein uralter Reflex brach sich unaufhaltsam Bahn und ließ ihn Atem holen. Sofort packte ihn ein Würgekrampf, doch da steckte ihm das Wasser schon wie eine Socke in der Kehle und ließ ihn in einem Gestöber kleiner weißer Luftperlen hin und her zucken…
    Dann schlug er hart auf den Boden auf, hustete, röchelte und japste nach Luft.
    Sarcellus zog ihn an den Haaren auf die Knie und drehte sein Gesicht dem Mischwesen zu, das Inrau nur noch verschwommen erkennen konnte. Er erbrach sich und hatte dabei das Gefühl, nun wollten seine Lungen Feuer fangen.
    »Ich gehöre zu den Alten Namen«, sagte das winzige Gesicht. »Selbst in dieser Verkleidung habe ich dir Todesangst einjagen können, du Mandati-Narr.«
    »Wa…«, begann Inrau, musste aber schlucken, schluchzte auf und begann erneut: »Warum?«
    Wieder lächelte das Mischwesen sein winziges, dünnes Lächeln. »Du betest das Leiden an – lass es damit doch genug sein!«
    Eine ungeheure Wut packte ihn. Das Wesen begriff nicht! Es begriff einfach nicht. Halb brüllend, halb hustend taumelte Inrau ruckartig vorwärts. Das Mischwesen schien ihm aus dem Weg zu huschen, doch er war nicht darauf aus, es zu töten. Alles kannst du von mir verlangen, mein alter Lehrer. Die steinerne Brüstung, gegen die er mit dem Becken prallte, zerbröselte wie Kuchen. Wieder hatte er den Bodenkontakt verloren, diesmal aber fühlte sich das ganz anders an: Luft fuhr ihm peitschend durchs Gesicht und strömte seinen Körper entlang. Mit ausgestreckter Hand folgte Paro Inrau den Säulen auf ihrem steilen Weg zur Erde.

 
     
     
Teil II
     
     
     
    Der Kaiser

5. KAPITEL
     
    MOMEMN
     
     
     
    Worin besteht der Unterschied zwischen einem starken und einem schwachen Kaiser? Einfach darin, dass der starke Kaiser die Welt zu seiner Arena, der schwache Kaiser sie zu seinem Harem macht.
     
    Casidas: Die Annalen von Cenei
     
     
    Die Anhänger des Stoßzahns haben nie begriffen, dass die Nansur und die Kianene altgediente Feinde waren. Wenn zwei zivilisierte Völker seit Jahrhunderten miteinander im Krieg liegen, erwachsen aus ihrem Widerstreit im Großen allmählich jede Menge gemeinsame Interessen im Kleinen. Hartnäckige Feinde verbindet vielerlei: gegenseitiger Respekt; eine gemeinsame Geschichte; die virtuose Fähigkeit, einander nicht matt, sondern patt zu setzen; schließlich eine Fülle unausgesprochener Waffenstillstandsvereinbarungen.
    Die Anhänger des Stoßzahns waren Eindringlinge – eine freche Meute, die die peinlich genau beachteten Rituale einer viel älteren Feindschaft zu beseitigen drohte.
     
    Drusas Achamian: Handbuch des Ersten Heiligen Kriegs

MOMEMN, FRÜHSOMMER 4110
     
    Der Kaiserliche Audienzsaal war so gebaut, dass die Abendsonne ihn erleuchtete. Darum gab es hinter dem Podium des Herrschers keine

Weitere Kostenlose Bücher