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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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murmelte er. »Bitte gib mir Kraft…«
    Die kleine Schriftrolle entglitt seinen Händen und kam mit einem Geräusch am Boden auf. Dann war es still, auf massive, erdrückende Weise still. Ihm brach fast das Herz, so viel stand auf dem Spiel. Solche Ereignisse änderten den Lauf der Welt. Arbeit genug für eine Göttin.
    »Bitte… Sprich zu mir.«
    Nichts.
    Tränen liefen ihm über die Wangen. Er hob die Arme und hielt sie der Figur geöffnet entgegen, bis seine Schultern unerträglich schmerzten.
    »Sag irgendwas!«, flehte er.
    Lauf, flüsterten seine Gedanken. Lauf.
    Wie konnte er nur so ein Feigling sein?
    Da war ein Geräusch. Hinter ihm. Eine Art Flügelschlagen! Als würde ein Tuch die hohen Säulen streifen.
    Er wandte den Kopf zur nur schemenhaft erkennbaren Decke und lauschte wie ein Luchs. Wieder dieses Flattern. Irgendwo oben im Mittelschiff. Seine Haut prickelte.
    Bist du das?
    Nein.
    Immer diese Zweifel. Warum zweifelte er nur immer?
    Er kam stolpernd auf die Beine und hastete aus der Kapelle. Die Tempelpforte war geschlossen, die Türhüter nirgendwo zu sehen. Sekunden später hatte er die schmale Treppe entdeckt, die zu den Baikonen im Mittelschiff hinaufführte. Etwa auf halber Höhe der Treppe wurde es stockfinster. Er hielt einen Augenblick inne und atmete tief durch. Es roch staubig.
    Die Unsicherheit, die ihn stets geplagt hatte, war wie weggeblasen.
    Du bist es wirklich!
    Als er den oberen Treppenabsatz erreichte, schwirrte ihm vor Begeisterung der Kopf. Die Tür zum Balkonumgang war angelehnt. Graues Licht drang durch den Spalt. Endlich – nach all seinen Liebesbeweisen in all den Jahren – würde Onkis einmal nicht aus ihm singen, sondern sich ihm singend zuwenden. Vorsichtig trat er auf den Balkon hinaus. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und sein Magen krampfte sich nervös zusammen.
    Hier oben war der prasselnde Regen gut zu hören. Die Säulenkapitelle waren das Erste, was er im Dämmerlicht erkennen konnte, dann die Decke des Mittelschiffs, die von hier aus ganz nah war. Es schien fast unglaublich, dass eine so schwere Decke sich in solcher Höhe befand. Je tiefer die Säulen in den Tempelraum hinunterreichten, desto heller wurden sie. Das Licht, das von unten aufstieg, war schwach, weit weg und so weich wie die verwitterten Kanten des Mauerwerks.
    Inrau hatte den Eindruck, am Balkongeländer werde ihm schwindlig, und schob sich deshalb mit dem Rücken an der Wand entlang. Die Mauer schien bröcklig und wirkte im Dämmerlicht rissig, spröde und alt. Der Putz mit seinen Wandmalereien hatte sich in großen Stücken vom Stein gelöst. An der Decke klebten Hunderte Hornissennester, die ihn an muschelbesetzte Schiffsrümpfe am Strand erinnerten.
    »Wo bist du?«, flüsterte er.
    Dann sah er das Wesen, und panische Angst sprang ihn an.
    Es hockte ein paar Schritte entfernt auf dem Geländer, musterte ihn aus glänzenden blauen Augen und hatte den Körper einer Krähe, sein kleiner Glatzkopf aber hatte eine menschliche Gestalt und war etwa so groß wie eine Kinderfaust. Das Wesen lächelte, und dünne Lippen spannten sich über winzigen, makellosen Zähnen.
    Gütiger Sejenus, o Gott, das gibt’s doch nicht, das kann doch nicht wahr sein!
    In das kleine Gesicht trat für ein paar Sekunden eine Überraschung, die eine Parodie ihrer selbst schien. »Du weißt, wer ich bin?«, stellte das Wesen mit krächzender Stimme fest. »Wie das?«
    Undenkbar! Unmöglich! Ein Rathgeber? Hier? Nein, nein, nein!
    »Weil er einst«, gab eine andere Stimme zurück, »ein Schüler Achamians war.« Der Mann war ein gutes Stück entfernt in einem dunklen Winkel des Balkonumgangs verborgen gewesen und trat nun ins Dämmerlicht.
    Cutias Sarcellus lächelte zur Begrüßung. »Stimmt’s, Inrau?«
    Ein Kommandierender Tempelritter, der mit einem Rathgeber-Mischwesen Umgang pflegt?
    Akka, Akka, rette mich!
    Fassungsloser Schreck und verzweifelter Unglaube befielen Inrau, die Luft blieb ihm weg, und panische Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Er taumelte rückwärts. Der Boden schien zu schwanken. Als er hinter sich Eisen über Stein kratzen hörte, schrie er auf, fuhr herum und sah einen zweiten Tempelritter aus dem Dunkel treten. Auch ihn kannte er: Es war Mujonish, der ihn früher beim Eintreiben des Zehnts begleitet hatte. Der Mann kam in wachsamer Haltung und mit weit ausgestreckten Armen näher, als müsse er einen gefährlichen Bullen vor sich hertreiben.
    Was ging hier vor? Onkis?
    »Wie du

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