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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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die Versammlungshörner im tiefsten Bass, als dränge das Geräusch der Brandung durch eine Mauer. Er hastete über den Hof auf die gewaltigen Tempeltüren zu und zog sich dabei den Umhang über den Kopf, um sich vor dem strömenden Regen zu schützen. Das Tor der Irreüma öffnete sich knarrend, und ein breiter Lichtstreifen fiel aufs Pflaster, auf das der Regen rauschte. Neugierige Blicke sorgfältig vermeidend, drängte Inrau sich durch Scharen von Priestern und Mönchen, die aus dem Tempel kamen, und hetzte zwischen den Bronzeschlangen, die den Eingang zierten, die breiten Stufen hoch.
    Die Türhüter sahen ihn finster an, als er den Tempel betrat. Erst war er erschrocken, dann aber merkte er, dass ihr grimmiger Blick nur der Spur aus Wasser und Straßendreck galt, die er auf dem Boden hinterlassen hatte. Vor ihm bildeten zwei Säulenreihen einen breiten Gang, den an Ketten aufgehängte Kohlenbecken wahllos beleuchteten. Die steil aufragenden Säulen trugen das Mittelschiff des Tempels, bis zu dessen hoher Decke der Lichtschein des Feuers nicht hinaufreichte. Links und rechts des Mittelschiffs befanden sich je zwei Reihen niedrigerer Säulen, die die Seitenschiffe trugen, in denen sich kleine, den verschiedensten Gottheiten geweihte Kapellen befanden. Alles schien nach ihm zu greifen, ja an ihm zu zerren.
    Geistesabwesend legte er die Hand an eine Säule. Der Kalkstein war kühl und unbeteiligt und ließ nicht ahnen, welche Last er trug. Das war die Kraft der unbeseelten Dinge. Gib mir diese Kraft, Göttin – lass mich wie eine Säule sein.
    Inrau umrundete die Säule, betrat die angrenzende Kapelle der Göttin und spürte, wie sehr ihr ungerührtes Abbild ihn beruhigte. Onkis… Geliebte.
    Gott hat tausendmal tausend Gesichter, hatte Sejenus gesagt, doch der Mensch hat nur ein Herz. Jeder differenzierte Glaube ist ein Labyrinth aus unzähligen kleinen Höhlen und halb verborgenen Orten, an denen die Abstraktionen ihre bannende Kraft verlieren und die Gegenstände der religiösen Verehrung klein genug werden, um bei täglichen Sorgen zu trösten, und vertraut genug, um offen über belanglose Dinge zu weinen. Inrau hatte seine Höhle im Heiligtum von Onkis gefunden, der Sängerin in der Finsternis – jener Erscheinungsform Gottes, die aller Menschen Herz bewegte und sie dazu brachte, immer wieder nach weit mehr zu streben, als sie fassen konnten.
    Er kniete nieder und schluchzte los.
    Wenn er doch hätte vergessen können, was die Mandati ihn gelehrt hatten! Wäre ihm das gelungen, dann wäre diese letzte Offenbarung, die ihm das Herz zerriss, bedeutungslos gewesen. Wäre doch Achamian nicht gekommen… und würde er doch keinen Preis verlangen, der einfach zu hoch war!
    Onkis. Ob sie ihm vergeben konnte, dass er zu den Mandati zurückkehrte?
    Das Götzenbild war aus weißem Marmor, und seine geschlossenen Augen wirkten eingesunken wie die einer Toten. Auf den ersten Blick erinnerte sie an einen abgeschlagenen Frauenkopf, der schön, aber irgendwie auch gewöhnlich war und auf einem Stock steckte. Sah man aber näher hin, erwies sich der Stock als eine Art Bonsai-Baum, wie die alten Norsirai sie gezüchtet hatten, wobei dieser allerdings in Bronze gearbeitet war. Aus dem geöffneten Mund kamen ihr Zweige und breiteten sich übers Gesicht aus, als erlebe die Natur durch die Lippen des Menschen ihre Wiedergeburt. Weitere Zweige liefen zum Hinterkopf und brachen durch das erstarrte Haar. Ihr Gesicht rührte jedes Mal etwas in ihm auf, und deshalb kam Inrau immer wieder her: Sie war dieses Aufrühren, war der dunkle Ursprung seines wilden Gedankengestöbers. In ihr – so schien ihm – begegnete er seinem Archetyp.
    Er schrak auf, als er vom Eingang des Tempels Stimmen hörte. Das sind Türhüter. Bestimmt. Dann tastete er seinen Umhang ab und zog ein Säckchen mit getrockneten Aprikosen, mit Datteln, Mandeln und ein wenig gesalzenem Fisch hervor. Er kam Onkis so nah, dass sie seinen Atem spüren mochte, und legte seine Gaben mit zitternden Händen in einen kleinen Trog, der in ihren Sockel gemeißelt war. Alle Lebensmittel hatten einen Wesenskern, ja eine Seele (die die Gotteslästerer das Onta nannten). Alles warf einen Schatten, der bis ins Jenseits reichte, bis dorthin also, wo die Götter wandelten. Zitternd zog Inrau seinen bescheidenen Stammbaum hervor, begann, die Namen seiner Vorfahren zu flüstern, und hielt bei seinem Urgroßvater inne, um ihn anzuflehen, sich für sein Anliegen zu verwenden.
    »Kraft«,

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