Schattenfall
erst recht nicht, dass er sich ihretwegen Sorgen machte.
Nersei Calmemunis hingegen war von ganz anderem Kaliber. Von den Hohen Herren der Inrithi, die ihr Geburtsrecht angeblich für den Heiligen Krieg verpfändet hatten, war er als Erster im Kaiserreich angelangt. Seine Ankunft hatte die Bewohner von Momemn in Aufruhr versetzt: Tontafeln mit Segenssprüchen, die es in den Tempeln zum Stückpreis von einem Kupfertalent zu kaufen gab, hingen von Haus zu Haus quer über den Straßen, und auf den Feueraltären von Cmiral waren endlos viele Opfertiere in seinem Namen verbrannt worden. Jedem war klar, dass Männer wie Calmemunis und die ihnen unterworfenen Barone und Ritter Speerspitze und Triebfeder des Heiligen Krieges waren.
Wer aber würde dieses Heer führen?
Von flüchtiger Panik ergriffen, wandte Xerius seinen Blick von den eintretenden Männern aus Conriya ab und schaute nach oben, wo er Flügel schlagen hörte. Wie immer kreisten Spatzen unter dem dunklen Gewölbe und zankten sich. Und wie immer beruhigte ihn das. Er fragte sich kurz, wie Spatzen ihn wahrnehmen mochten. Als einen Menschen wie alle anderen?
Das hielt er für unwahrscheinlich.
Als er den Blick wieder senkte, knieten die Männer aus Conriya schon vor ihm am Boden. Einige hatten, wie Xerius angeekelt bemerkte, Blütenblätter im Haar und in den eingeölten Ringellocken des Barts – ein Zeichen dafür, dass sie beim Zug durch Momemn begeistert gefeiert worden waren. Nun erhoben sie sich einträchtig. Manche blinzelten, andere schirmten die Augen mit der Hand ab, weil die Abendsonne blendete.
Für die bin ich nur ein dunkler Umriss vor Sonne und Himmel.
»Es ist immer eine Freude«, begann Xerius überraschend bestimmt, »einen Cousin zu treffen, der eine weite Seereise zu uns unternommen hat. Wie geht’s, wie steht’s, Lord Calmemunis?«
Der Statthalter von Kanampurea löste sich ein paar Schritte von seinem Gefolge, hielt aber vor den gewaltigen Treppenstufen inne. Calmemunis war groß, breitschultrig und insgesamt von beeindruckender Gestalt. Sein sehr kleiner, unterm Bart geschürzter Mund mochte auf einen Geburtsfehler deuten, sein prachtvolles, in Rosa- und Blautönen gehaltenes Gewand aber konnte selbst einen Kaiser neidisch machen. Mochte sein Gefolge mit all den geölten Bärten auch ungeschlacht wirken (vor allem inmitten der glattrasierten Eleganz des Kaiserhofs von Nansur): Die Kleidung derer jedenfalls, die mit Calmemunis gekommen waren, war untadelig.
»Gut geht’s. Wie steht’s mit dem Krieg, Onkel?«
Xerius wäre beinahe vom Thron gefallen. Jemand schnappte nach Luft.
»Er will Euch nicht beleidigen, gottgleicher Kaiser«, murmelte Skeaös seinem Herrn rasch ins Ohr. »Der Adel von Conriya bezeichnet Menschen, die in der Hierarchie weiter oben stehen, oft als ›Onkel‹. Das ist dort so Sitte.«
Ja, dachte Xerius, aber warum fängt er gleich mit dem Krieg an? Will er mich quälen?
»Welchen Krieg meint Ihr? Den Heiligen Krieg?«
Calmemunis fasste die über ihm wie eine Mauer versammelten Silhouetten näher ins Auge und sagte: »Ich habe gehört, Euer Neffe Ikurei Conphas zieht gegen die Scylvendi im Norden.«
»Ach, das ist nur eine Strafexpedition. Im Vergleich zum großen Krieg, der bevorsteht, ist das kaum mehr als ein Stoßtruppunternehmen. Die Scylvendi sind unbedeutend. Ich mache mir über die Fanim von Kian Sorgen. Schließlich sind sie es, nicht die Scylvendi, die das Heilige Shimeh schänden.«
Ob sie hörten, wie hohl diese Behauptung war?
Calmemunis runzelte die Stirn. »Ich habe aber gehört, die Scylvendi seien ungewöhnlich stark und im Felde unbesiegt.«
»Da seid Ihr falsch informiert… Sagt, mein guter Statthalter – Eure Reise von Conriya hierher verlief ohne Zwischenfälle, nehme ich an.«
»Ohne nennenswerte Zwischenfälle jedenfalls. Momas hat uns freundliches Wetter gewährt.«
»Unser Reiseglück liegt in seiner Hand… Sagt, hattet Ihr Gelegenheit, Euch vor der Abfahrt aus Aöknyssus mit Proyas zu beraten?« Xerius konnte förmlich hören, wie Skeaös neben ihm erstarrte. Vor kaum drei Stunden hatte der Oberste Berater ihm vom Streit zwischen Calmemunis und seinem berühmten Verwandten berichtet. Gewährsleute des Kaisers hatten in Conriya erfahren, Proyas habe Calmemunis vor einem Jahr wegen Befehlsverweigerung bei der Schlacht von Paremti auspeitschen lassen.
»Mit Proyas?«
Xerius lächelte. »Ja – mit Eurem Cousin, dem Kronprinzen.«
Das Gesicht mit dem kleinen Mund
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