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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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siehst«, sagte das krähenleibige Mischwesen, »entkommst du uns nicht.«
    »Wer bist du?«, brachte Inrau hervor. Erst jetzt sah er das Hexenmal: ein Narbengeflecht, das auf die Zauberformeln zurückging, die eine Menschenseele in die abscheuliche Gestalt vor ihm gebannt hatten. Wie hatte er das übersehen können?
    »Er weiß, dass meine Gestalt nur eine Verkleidung ist«, sagte das Mischwesen zu Sarcellus, »doch Chigra trägt er nicht in sich.« Die erbsengroßen Augen – kleine Perlen aus himmelblauem Glas – richteten sich auf Inrau. »Hmm, Junge? Du träumst nicht von Seswatha, stimmt’s? Wenn du das nämlich tätest, hättest du mich erkannt. Chigra hat mich bisher noch immer erkannt.«
    Onkis? Du verräterisches Miststück von einer Göttin!
    Trotz seines Schreckens erfüllte ihn plötzlich eine unerhörte Gewissheit. Eine Offenbarung. Ein Gebet hatte das Narbengeflecht dieses Hexenmals geschaffen, und unter diesem Mal waren – das spürte er – weitere Worte verborgen, Worte von gewaltiger Macht.
    »Was willst du?«, fragte Inrau, und seine Stimme war diesmal ruhiger. »Was machst du hier?« Die Antwort war ihm egal – Hauptsache, er schindete Zeit.
    Bitte vergiss mich nicht! Bitte vergiss mich nicht! Bitte…
    »Was ich hier mache? Das, was unsereiner immer tut: Ich prüfe, wie unsere Chancen stehen.« Das Wesen zog einen Schmollmund und sah griesgrämig drein. »So wie du, vermute ich, als du die Gemächer des Tempelvorstehers durchsucht hast, hmm?«
    Es tat ihm weh zu atmen, und er konnte nicht sprechen.
    Ja, genau, aber was kommt als Nächstes? Was kommt danach?
    »Tss, tss«, meinte Sarcellus und schob sich vorsichtig näher. »Ich fürchte, daran bin zum Teil ich schuld, Altvater. Vor ein paar Wochen habe ich unseren jungen Parteigänger hier gebeten, fleißig zu sein.«
    »Dann ist es allein deine Schuld«, sagte das Mischwesen, warf Sarcellus dabei im Scherz einen finsteren Blick zu und hüpfte ein, zwei Meter auf dem Geländer entlang, um dem zurückweichenden Inrau zu folgen. »Weil er ohne Anleitung war, hat er seine Leidenschaft an die falschen Tätigkeiten verschwendet und Gott nachspioniert, statt ihn anzubeten.« Das Mischwesen schnaubte kurz, und das klang wie das Niesen einer Katze. »Verstehst du, Inrau? Du hast absolut nichts zu befürchten. Der Kommandierende Tempelritter trägt die Verantwortung.«
    Genau, genau, genau!
    Inrau spürte, dass hinter ihm Mujonish bedrohlich näher rückte. Eine Art Glossolalie übermannte ihn, und eine Zauberformel kam über seine Lippen.
    Mit hexenhafter Geschwindigkeit fuhr er herum, bohrte zwei Finger durch Mujonishs Kettenhemd, zertrümmerte ihm das Brustbein und griff nach seinem Herzen. Er riss die Hand aus dem Brustkorb seines Gegenübers, und eine schmale, glitzernde Blutfontäne stieg auf. Inrau sprach noch eine magische Formel, und das Blut verwandelte sich in eine leuchtende Flamme, die der Richtung seiner Hand folgte und Kurs auf das Mischwesen nahm. Schreiend tauchte das Geschöpf übers Geländer in die Leere. Blendend helle Blutstropfen fraßen Risse in die Steinbrüstung.
    Eigentlich hätte er sich nun Sarcellus vornehmen wollen, doch der Anblick von Mujonish ließ ihn innehalten. Der Tempelritter war auf die Knie gefallen und hatte die blutigen Hände in seinen Umhang gekrallt. Dann verlor sein Gesicht plötzlich alle Kontur, als ob eine Blase geplatzt wäre. Der Inhalt strömte aus, und was eben noch nach Inrau gegriffen hatte, ließ von ihm ab…
    Kein Mal. Nicht die leiseste Spur von Hexerei.
    Aber wie ist das möglich?
    Etwas traf ihn mit Wucht am Kopf, und er stürzte. Kaum hatte er sich aufgerappelt, warf ihn ein Schlag in den Magen wieder zu Boden. Er sah die schattenhafte Gestalt von Sarcellus tänzelnd über sich und brachte keuchend weitere Worte hervor, die ihn schützen sollten. Sofort umgab ihn ein Bannkreis…
    Doch er war nutzlos, denn der Tempelritter griff durch die funkelnden Sphären des Schildes, als seien sie bloßer Rauch, packte ihn an der Gurgel und hob ihn in die Luft. In der anderen Hand hatte er ein Chorum, das er über Inraus Gesicht pendeln ließ.
    Quälende Todesangst. Dann berührte der Anhänger Inraus Gesicht nur ganz leicht, doch das fühlte sich an, als habe er mit voller Wucht einen Schlag verpasst bekommen. Er langte an die schmerzende Stelle, und Haut – durch die Berührung des Chorums in Salz verwandelt – rieselte ihm durch die Finger. Die offene Wunde brannte, und er heulte erneut

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