Schattenfall
Xerius? Wofür gehst du eigentlich all diese wahnwitzigen Risiken ein?«
»Aber Mutter – bist du tatsächlich schon so alt?« Einen Moment lang erlaubte er es sich, die Dinge mit ihren Augen zu sehen: Das kaufmännische und damit ungewöhnliche Kalkül hinter der Forderung, jeder Hochadlige, der in den Heiligen Krieg ziehe, müsse den von ihm aufgesetzten Vertrag unterschreiben, hatte seiner Mutter gewiss stark zugesetzt – genau wie die Tatsache, dass die größte Armee, die das Kaiserreich seit einer Generation versammelt hatte, nicht gegen die heidnischen Kian, sondern gegen den weit älteren und launischeren Feind, die Scylvendi, entsandt worden war. Bei so ausgeklügelten Plänen wie dem seinen war die Logik stets verborgen.
Xerius war nicht so dumm, anzunehmen, er könnte seinen Vorfahren an Waffenkraft und Geistesstärke das Wasser reichen. Er war überhaupt nicht dumm. Die Gegenwart war anders als die rühmreiche Vergangenheit und erforderte neue Qualitäten. Der Siegertyp der Jetztzeit setzte Menschen zu seinem Vorteil ein und nutzte den Lauf der Dinge geschickt für die eigenen Interessen. Und Xerius tat beides: In seinem frühreifen Neffen Conphas hatte er ein williges Werkzeug, und der Heilige Krieg des wild gewordenen Tempelvorstehers spielte seinen Absichten in die Hände. Mit diesen beiden Hebeln würde er das Kaiserreich zurückgewinnen.
»Was planst du denn nun, Xerius? Sag es mir!«
»Das tut weh, was, Mutter? Im Zentrum des Reichs zu stehen und doch taub für seinen Herzschlag zu sein – nachdem du ihm den Rhythmus jahrzehntelang vorgegeben hast!«
Statt Empörung zu zeigen, schlug sie in unvermittelter und intuitiver Erkenntnis der wesentlichen Zusammenhänge die Augen auf. »Der Vertrag ist nur ein Vorwand«, stieß sie hervor. »Er soll dich vor Sanktionen des Tempelvorstehers bewahren, wenn du…«
»Wenn ich was, Mutter?« Xerius warf rasch einen nervösen Blick auf die kleine Schar ringsum. Dies war nicht der rechte Ort für so eine Unterhaltung.
»Hast du meinen Enkel deshalb auf ein Himmelfahrtskommando geschickt?«, rief sie.
Da war er also endlich, der wahre Grund ihrer aufmüpfigen Fragen: ihr geliebter Enkel, der arme, süße Conphas, der nun irgendwo durch die Steppe Jiünati zog und die gefürchteten Scylvendi suchte. Das war die Istriya, die Xerius kannte und verachtete: ohne religiöses Empfinden, dafür aber besessen von ihren Nachkommen und dem Schicksal des Hauses Ikurei.
Conphas hätte den alten Glanz des Reichs wiederherstellen sollen, nicht wahr, Mutter? Zu so einer Ruhmestat hast du mich nie für fähig gehalten, stimmt’s, du alte Hexe?
»Du übernimmst dich, Xerius! Du greifst nach den Sternen!«
»Einen Moment hatte ich wirklich geglaubt, du würdest verstehen.« Zwar hatte er das mit lässiger Gewissheit gesagt, tatsächlich aber fürchtete ein gut Teil seines Wesens, sie könnte recht haben. Bestimmt bräuchte er nun zum Einschlafen eine ganze Karaffe voll unverdünnten Weins. Oder sogar noch mehr, überlegte er – nach diesem Vorfall mit den Vögeln…
»Ich verstehe sehr gut«, gab Istriya scharf zurück. »Du bist nicht so raffiniert, Xerius, dass ich alte Frau dich nicht durchschauen würde. Du hoffst, den Heerführern Unterschriften abzunötigen – und zwar nicht, weil du glaubst, auch nur einer der Männer des Stoßzahns würde auf seine Eroberungen verzichten, sondern weil du hinterher gegen sie Krieg führen willst. Mit deinem Vertrag bist du gegen Sanktionen des Tempelvorstehers gefeit, wenn du die unbedeutenden und schwach bevölkerten Lehnsherrschaften unterwirfst, die in der Folge des Heiligen Kriegs gewiss errichtet werden. Darum hast du Conphas auf deine sogenannte Strafexpedition gegen die Scylvendi geschickt. Für deinen Plan brauchst du Soldaten – und die hast du nicht, solange die Nordprovinzen bewacht werden müssen.«
Sein Magen begann nervös zu flattern.
»Tja«, sagte sie böse, »es ist eines, sich seine Pläne immer wieder geistig vor Augen zu führen, und ein ganz anderes, sie aus fremdem Mund zu hören, stimmt’s, mein dummer Junge? Als würdest du einem Schauspieler lauschen, der mit deiner Stimme wie ein Papagei vor sich hin plappert. Hört sich das nun dumm an, Xerius? Klingt es womöglich gar verrückt?«
»Nein, Mutter«, brachte er mit einem gewissen Anschein von Selbstvertrauen hervor. »Allenfalls wagemutig.«
»Wagemutig?«, rief sie, als habe dieses Wort ihrer Verstörung ein Ventil eröffnet. »Warum hab ich
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