Schattenfall
dich bloß nicht in der Wiege erstickt! Du Dummkopf von einem Sohn! Du hast uns dem Untergang geweiht, Xerius. Begreifst du das denn nicht? Niemand – kein König von Kyraneas, kein Regent von Cenei – hat die Scylvendi je auf ihrem Territorium geschlagen. Sie sind das Kriegervolk schlechthin, Xerius! Conphas ist tot, und deine besten Truppen sind hingemetzelt! Xerius, Xerius – du hast über uns alle das Verhängnis gebracht!«
»Nein, Mutter. Conphas hat mir versichert, er könne es schaffen. Er hat die Scylvendi wie kein anderer studiert. Er kennt ihre Schwächen.«
»Du Narr: Conphas ist noch ein Kind! Intelligent, furchtlos, schön wie ein Gott – aber ein Kind…« Sie schlug die Hände vors Gesicht und jammerte: »Du hast mein Kind getötet!«
Ihre Logik, vielleicht aber auch ihre panische Angst durchfuhr ihn mit aller Gewalt. Verstört blickte Xerius die Umstehenden an und sah, dass auch ihnen die Angst seiner Mutter im Gesicht stand. Er begriff, dass das schon die ganze Zeit so war. Sie fürchteten nicht Ikurei Xerius III. sondern das, was er getan hatte.
Habe ich etwa alles zerstört?
Er stolperte, und knochige Hände stützten ihn. Skeaös. Skeaös! Der wenigstens begriff doch die kaiserliche Strategie und hatte Ruhm und Glanz schon am Horizont aufziehen sehen!
Xerius fuhr herum, packte den alten Berater bei der akkurat drapierten Robe und schüttelte ihn so heftig, dass seine Gewandspange – ein goldenes Auge mit einer Pupille aus Onyx – zerbrach und über den Boden klirrte.
»Du teilst doch meine Einschätzung und heißt meinen Plan gut!«, rief Xerius. »Na los, bestätige ihr das!«
Der alte Mann griff nach seiner Robe, damit sie ihm nicht von den Schultern fiel, und hielt die Augen pflichtschuldig gesenkt. »Ihr seid ein Risiko eingegangen, gottgleicher Kaiser. Erst nach Befragung des Zahlenorakels können wir sicher sein.«
Ja! Genau!
Erst nach Befragung des Zahlenorakels…
Tränen traten ihm in die Augen. Er strich dem alten Berater über die Wangen und erschrak darüber, wie ledrig seine Haut war. Seine Mutter hatte ihm nichts Neues gesagt. Ihm war längst klar, dass er das höchste Risiko eingegangen war. Wie lange hatte er zusammen mit Conphas diesen Plan ausgeheckt! Wie oft hatte er das kriegerische Genie seines Neffen bestaunt! Noch nie hatte das Kaiserreich einen so brillanten Oberbefehlshaber gehabt wie Ikurei Conphas. Noch nie!
Er wird die Scylvendi besiegen. Er wird das Kriegervolk schlechthin demütigen! Und es schien Xerius, als wisse er all dies mit unverbrüchlicher Sicherheit. Mein Stern ist ins Haus der Anagke, der Hure des Schicksals, getreten und hat mit ihr und dem Nagel des Himmels eine Achse gebildet …
Und außerdem hat mich ein Vogel getroffen!
Er legte Skeaös die Hände auf die Schultern und war hingerissen vom Großmut dieser Geste. Wie der mich jetzt lieben muss! Er blickte Gaenkelti, Ngarau und die anderen an, und plötzlich schien ihm der Grund ihres Zweifels und ihrer Furcht völlig klar zu sein. Er wandte sich wieder seiner Mutter zu, die auf die Knie gefallen war.
»Ihr alle glaubt, hier sei ein Mensch ein wahnwitziges Risiko eingegangen. Menschen aber sind schwach, Mutter. Menschen sind fehlbar.«
Sie musterte ihn. Ihr Lidschatten war verschmiert. »Sind denn Kaiser keine Menschen, Xerius?«
»Priester, Auguren und Philosophen lehren uns, dass wir nur Rauch wahrnehmen. Der Mensch, der ich bin, ist nur Rauch, Mutter. Der Sohn, den du geboren hast, trägt diesen Körper nur als Maske, als eine von vielen Verkleidungen für das ermüdende Fest aus Blut und Samen, das man Leben nennt. Ich bin, was ich nach deiner Prophezeiung sein werde: Kaiser. Mehr als nur gottgleich: göttlich. Also kein Rauch, sondern Feuer.«
Bei diesen Worten fiel Gaenkelti auf die Knie. Nach einem Moment des Zögerns taten die anderen es ihm nach.
Istriya aber packte ihren Eunuchen am Arm, zog sich auf die Beine und starrte ihren Sohn dabei die ganze Zeit entgeistert an. »Und wenn Conphas in diesem Rauch stirbt, Xerius? Wenn die Scylvendi aus dem Rauch geritten kommen und dein sogenanntes Feuer austreten – was dann?«
Er konnte seine Empörung nur mit Mühe beherrschen. »Dein Ende ist nah, und du hältst dich an den Rauch, weil du fürchtest, es gebe nichts sonst. Du hast Angst, Mutter, denn du bist alt, und nichts verwirrt den Menschen so sehr wie die Angst.«
Istriya musterte ihn herrisch. »Mein Alter ist meine Sache. Ich brauche keine Narren, mich daran zu
Weitere Kostenlose Bücher