Schattenfeuer
»Offenbar haben die verdammten Bürokraten Erics Leichnam verloren.«
Rachael erbleichte, und in ihren Augen flackerte Angst und Panik. Seltsamerweise aber schien sie nicht überrascht zu sein.
Ben gewann plötzlich den Eindruck, daß die junge Frau schon seit einer ganzen Weile auf diesen Anruf gewartet hatte.
4. Kapitel - Unten, wo die Toten liegen
Als Rachael das Büro des Gerichtsmediziners sah, kam sie sofort zu dem Schluß, daß sich Everett Kordell durch ein obsessiv -zwanghaftes Wesen auszeichnete. Auf dem Schreib tisch lagen weder Bücher noch irgendwelche Dokumente oder Akten. Stifte, Kugelschreiber, Brieföffner, die in silberne Rahmen eingefaßten Bilder seiner Familie -alles war sorgfältig angeordnet, in exakter Symmetrie. In den Regalen hinter dem Schreibtisch standen zwei- oder dreihundert Bü cher, und ihre makellosen Reihen wirkten fast wie das Bild eines übergroßen Prospekts. An der anderen Wand waren das Diplom des Mediziners und zwei Anatomiekarten befestigt. Vielleicht, so überlegte Rachael, überprüfte Kordell jeden Morgen mit Lot und Lineal, ob sie auch wirklich gerade hingen.
Kordells ausgeprägter Ordnungssinn kam auch in seinem Erscheinungsbild zum Ausdruck. Er war etwa fünfzig Jahre alt, hochgewachsen und auffallend hager, und er hatte ein schmales, asketisches Gesicht mit klaren, runden Augen. In seinem ergrauenden, kurzgeschnittenen Haar stand keine einzige Strähne ab, und das weiße Hemd erweckte den Eindruck, als sei es gerade erst gebügelt worden. Die Falten in der dunkelbraunen Hose waren so deutlich ausgeprägt, daß sie im Neonlicht wie zwei völlig geradlinige Striche glänzten.
Als Rachael und Benny in zwei Sesseln mit waldgrünem Lederbezug Platz genommen hatten, setzte sich Kordeil hinter seinen Schreibtisch.
»Die ganze Sache ist mir höchst unangenehm, Mrs. Leben. Ich bedaure es sehr, Sie noch weiter belasten zu müssen, und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mich noch einmal bei Ihnen zu entschuldigen und Ihnen mein Beileid auszusprechen. Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte Rachael, obgleich sie sich noch nie zuvor so elend gefühlt hatte.
Benny beugte sich vor und drückte kurz ihre Hand. Der liebe und verständnisvolle Benny. Rachael war froh, daß er sie begleitet hatte. In physischer Hinsicht konnte man ihn nicht gerade als eindrucksvoll bezeichnen. Ben maß gut eins siebzig und wog etwa fünfundsiebzig Kilo. Er schien ein Mann zu sein, der in der Menge verschwinden konnte und bei Partys nicht weiter auffiel. Aber wenn er mit seiner sanften Stimme sprach oder sich mit der für ihn typischen Ge schmeidigkeit bewegte, wenn er einen nur ansah, bemerkte man sofort seine Intelligenz und Feinfühligkeit. Mit seiner ruhigen Gelassenheit konnte er ebensolche Aufmerksamkeit erregen wie das Brüllen eines Löwen. Bennys Anwesenheit machte für Rachael alles leichter.
»Was ist überhaupt geschehen?« wandte sich die junge Frau an den Gerichtsmediziner. Doch sie fürchtete, daß sie die Antwort auf diese Frage bereits kannte.
»Ich mö chte ganz offen zu Ihnen sein, Mrs. Leben«, sagte Kordell. »Es hat keinen Sinn, jetzt nach Ausflüchten zu suchen.« Er seufzte, schüttelte den Kopf und richtete seinen Blick auf Benny. »Sie sind nicht zufällig der Anwalt Mrs. Lebens?«
»Nein, nur ein alter Freund.«
»Bestimmt?«
»Ich habe sie begleitet, um ihr moralische Unterstützung zu gewähren.«
»Nun, ich hoffe, wir können auf Rechtsanwälte verzichten«, meinte Kordell.
»Ich beabsichtige nicht, Klage zu erheben«, versicherte ihm Rachael.
Der Gerichtsmediziner nickte betrübt, nicht sonderlich überzeugt. »Für gewöhnlich halte ich mich um diese Zeit nicht in meinem Büro auf«, sagte er. Es war halb zehn abends, am Montag. »Wenn sich unerwartete Arbeit ergibt und noch eine späte Autopsie durchgeführt werden muß, so überlasse ich sie einem meiner Assistenten. Eine Ausnahme wird nur dann gemacht, wenn es sich bei dem Verstorbenen um einen Prominenten handelt -oder aber das Opfer eines besonders außergewöhnlichen Mordfalls. Nun, wenn die Medien oder Politiker interessiert sind, ziehe ich es vor, die Untersuchung selbst vorzunehmen, auch wenn sie Stunden dauern sollte. Ihr Mann, Mrs. Leben, gehörte zweifellos zur erstgenannten Kategorie.«
Er schien auf eine Antwort zu warten, und deshalb nickte Rachael. Seit sie vom Verschwinden des Leichnams gehört hatte, rumorte
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