Schattenfluegel
erneuten Streit. Also tat sie so, als habe sie ihr längst verziehen.
Erleichtert lächelte Marie ihr zu. »Und?«, fragte sie, stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte ab und legte das Kinn auf die verschränkten Hände.
Kim guckte fragend, weil sie nicht genau wusste, was Marie meinte. Ungeduldig fügte Marie hinzu: »Na, wirst du mit ihm hingehen? Ins Pascha, meine ich.«
»Weiß ich noch nicht«, gab Kim zu.
Da wurde Maries Lächeln breiter. Kim konnte förmlich hören, wie sie in Gedanken Pläne schmiedete, sich Lukas selbst zu angeln. Und ihre Chancen standen wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht. Unauffällig verglich Kim sich mit Marie in einem der riesigen Spiegel, die hier im Eiscafé wie Bilder an der Wand hingen. Sie selbst mit ihrem langweiligen Pferdeschwanz und dem blassen Gesicht, während Maries Haut genau den perfekten, ebenmäßigen Elfenbeinton hatte und ihre blonden Haare sich in lässigen Locken um ihre Wangen ringelten.
In diesem Moment stieß Sabrina ein verzücktes Quietschen aus. Dabei riss sie die Augen auf und starrte auf etwas hinter Kims Rücken. Gleichzeitig spürte Kim einen kühlen Luftzug im Genick, der ihr verriet, dass jemand das Eiscafé betreten hatte. Offenbar war dieser Jemand der Grund für Sabrinas Verzückung.
Kim drehte sich um.
In der Tür stand Lukas.
Er ließ seinen Blick durch das Lokal schweifen und suchte sich dann einen Platz am Fenster. Bevor er sich in die mit rotem Kunstleder bezogene Sitzecke fallen ließ, fing er Kims Blick ein und lächelte ihr leicht zu.
Kim wich ihm aus. Maries Miene hatte sich verfinstert, aber Kims Herz klopfte plötzlich so heftig, dass sie es im Hals spüren konnte. Um ihre Nervosität zu verbergen, senkte sie den Kopf über ihr Eis. Die rote Soße hatte inzwischen zusammen mit dem Gelb vom Eis einen unappetitlichen See auf ihrem Teller gebildet, und obwohl sich Kim beinahe der Magen umdrehte bei diesem Anblick, schaffte sie es, einen weiteren Löffel in sich hineinzuzwängen.
Noch während sie damit beschäftigt war, nicht zu würgen, bemerkte sie, wie Sabrina sich von der Sitzbank schlängelte. »Was hast du vor?«, zischte sie ihr zu und ahnte bereits nichts Gutes.
Sabrina beachtete sie nicht, sondern steuerte zielstrebig auf Lukas zu. Der war damit beschäftigt, die Eiskarte zu studieren. Als Sabrina sich vor ihm aufbaute, blickte er überrascht hoch.
»Kim hat mich gebeten, dir zu sagen, dass das mit Samstagabend klargeht«, behauptete sie.
Kim traute ihren Ohren nicht. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Marie ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste und konnte sich vorstellen, was sie dachte. Mit Sicherheit hätte Marie es vorgezogen, am Samstag allein ins Pascha zu gehen – und dort vielleicht »ganz zufällig« auf Lukas zu treffen.
»Wirklich?« Lukas’ Blick huschte an Sabrinas Gestalt vorbei und heftete sich auf Kim.
Sie hielt ihm stand. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Da sah Lukas wieder Sabrina an. »Dann sag ihr, dass ich mich freue«, meinte er ruhig.
Insgeheim freute Kim sich auf den Besuch im Pascha. Vor dem Samstag kam allerdings erst mal der Donnerstag und an diesem Tag hatte Kim einen Termin bei ihrem Psychotherapeuten. Dr. Schinzel war ein älterer Mann um die sechzig, was man aber aufgrund seiner spiegelblanken Glatze und der durchtrainierten Tennisspielerfigur nicht vermutete. Seine Praxis lag in einem alten Backsteingebäude in der Stadtmitte. Aus dem Behandlungszimmer, hatte man einen schönen Blick auf einen kleinen Park und die gegenüberliegenden Altbauhäuser.
»Nun, Kim«, sagte er und begrüßte sie wie jedes Mal mit einem warmen Händedruck und einem herzlichen Lächeln, bevor er ihr den Platz gegenüber von seinem Schreibtisch anbot. Dann nahm er – auch wie jedes Mal - seine Armbanduhr ab, um sie vor sich auf den Tisch zu legen. »Wie geht es dir heute?«
»Nicht so besonders«, antwortete sie. Dr. Schinzel richtete sich noch ein wenig mehr auf und sah sie fragend an. »Also«, fuhr sie fort und suchte nach den passenden Worten. »Es gab da ein paar Dinge, die …« Und dann erzählte sie von Jonas’ Aktion mit der Libelle.
»Das muss dich sehr wütend gemacht haben«, vermutete Dr. Schinzel.
»Hat es.«
Der Arzt schwieg. Kim kannte das. Er wollte, dass sie sich selbst erforschte, dass sie herausfand, was genau sie fühlte. Sie lauschte in sich hinein, wie er es ihr beigebracht hatte. »Ich bin nicht nur wütend, sondern auch … hm, irgendwie
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