Schattenfluegel
an zu heulen!, mahnte sie sich selbst.
Lukas’ Kinn zuckte in Richtung Schultür, durch die Marie verschwunden war. »Das ist eine blöde Zicke!«, sagte er.
Dann trat er in die Pedale und fuhr davon.
Am nächsten Morgen kam Kim beinahe zu spät zur Schule, weil sie in der Nacht kaum geschlafen und sich dementsprechend nur mühsam aus dem Bett gequält hatte. Als sie die Schule durch die große gläserne Flügeltür betrat, fiel ihr Blick sofort auf eine Ansammlung von Schülern aus ihrer Jahrgangsstufe im hinteren Teil der Pausenhalle. Marie war dabei und auch Sabrina. Zusammen mit ein paar anderen bildeten die beiden Mädchen einen kleinen Kreis um Jonas, der in der Mitte stand. Kim konnte hören, dass er eine Menge scherzhafte, aber auch ein paar boshafte Bemerkungen über sich ergehen lassen musste. Dann sah sie, dass er auf der Nase eine riesige Sonnenbrille trug.
Sie ging näher heran, um zu erfahren, worüber die anderen sich lustig machten. Am Rande der Gruppe bemerkte sie Lukas, der, wie es schon seine Gewohnheit zu sein schien, beim Terrarium des Dornschwanzes stand und die Szenerie interessiert beobachtete.
»Gib’s doch zu«, sagte Tobias gerade, »du hast gestern Abend die Whiskyflasche von deinem Vater geklaut!« Er griff nach der Sonnenbrille, aber Jonas schlug seine Hand zur Seite und motzte: »Lass das!«
In dem Moment bemerkte er Kim. Schlagartig verfinsterte sich seine Miene noch mehr. »Hallo, Freaky!«, knurrte er. Durch die Gruppe ging ein erschrockenes Flüstern. Aber Kim ließ sich diesmal von der Beleidigung nicht beeindrucken. Abschätzig musterte sie Jonas von Kopf bis Fuß. »Na?«, fragte sie mit kühler Stimme. »Wann ist denn diese Klassenkonferenz, bei der entschieden wird, ob sie dich von der Schule schmeißen?«
Vor Wut wurde Jonas’ Gesicht dunkelrot. Aber er sagte keinen Ton. Die Sache mit der Libelle war nicht das erste Mal gewesen, dass er unangenehm aufgefallen war, und seine Schülerakte hatte inzwischen wahrscheinlich die Dicke eines Leitzordners. Jonas Lage sah also nicht besonders gut aus.
Kim hörte Lukas leise lachen, doch dann lenkte Marie die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf das ursprüngliche Thema. »Jetzt sag schon!«, drängte sie. »Was soll diese überdimensionale Sonnenbrille? Meinst du, du kannst damit einen neuen Trend setzen oder was?«
Jonas schüttelte den Kopf und machte ein abwehrendes Gesicht. In dem Moment kam Kim ein Verdacht. Bevor sie allerdings fragen konnte, schuf Tobias schon Tatsachen: Er machte einen schnellen Schritt nach vorne und riss Jonas die Brille vom Gesicht.
»He!«, protestierte Jonas, aber es war zu spät. Jeder konnte das blutunterlaufene, blau geschwollene Auge sehen.
»Du liebe Güte!«, entfuhr es Marie.
Tobias brach in wieherndes Gelächter aus. »Bist du mit dem Schulbus zusammengestoßen oder was?«, höhnte er.
Kims Blick wanderte zu Lukas hinüber. Er hatte sich inzwischen auf die blaue Bank gesetzt und betrachtete die Szene vollkommen ruhig, als hätte er mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun. Dann bemerkte er, dass Kim ihn musterte und zwinkerte ihr zu.
Jonas starrte ebenfalls in Lukas’ Richtung, und wenn seine Blicke Pfeilspitzen gewesen wären, hätte Lukas jetzt mindestens zehn davon in der Brust stecken gehabt. So aber blieb Jonas nichts anderes übrig, als Tobias die Sonnenbrille wieder aus der Hand zu reißen, sich so hoheitsvoll wie möglich umzuwenden und davonzustiefeln, als sei nichts gewesen.
Ein Zucken umspielte Lukas’ Mundwinkel, wurde dann zu einem spöttischen Grinsen, und als Kim fragend die Augenbrauen hob, vollführte er eine galante Verbeugung in ihre Richtung.
»Sei ehrlich«, verlangte Kim ein paar Stunden später, als sie mit Lukas am Schulkiosk zusammentraf. »Jonas’ blaues Auge stammt von dir, oder?« Wie schon gestern war Kim sich nicht ganz sicher, ob ihr erneutes Zusammentreffen Zufall war oder ob Lukas es darauf angelegt hatte. Seine Blicke brannten auf ihr, sobald er in ihrer Nähe war, und sie ertappte sich dabei, dass sie genau das genoss. Die Vorstellung, dass er Jonas ihretwegen eine reingehauen hatte, verursachte ein merkwürdiges Kitzeln in der Magengegend.
Anstatt einer Antwort schickte Lukas nur ein geheimnisvolles Lächeln in ihre Richtung. Dann musste er sich von ihr abwenden, weil er mit seiner Bestellung dran war. Er bat den Hausmeister um eine Apfelschorle und eine Packung Studentenfutter, und als er beides bezahlt hatte, ging er damit zu der
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