Schattenfluegel
noch viel weniger Ahnung hatte sie, warum er sich von allen Mädchen in der Schule ausgerechnet sie ausgesucht hatte. Sie war weder so hübsch wie Marie noch so intelligent wie manch andere auf dieser Schule. Sie war eigentlich nur … durchschnittlich.
Und trotzdem schien Lukas sich für sie zu interessieren. Der lässige, ruhige Lukas. Der coolste Typ weit und breit, wie Sabrina es ausgedrückt hatte.
Allein bei dem Gedanken an ihn fing es in Kims Bauch an zu kribbeln. Irgendwann in der Nacht von Freitag auf Samstag entschied sie, dass es jetzt vielleicht wirklich an der Zeit war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und in die Zukunft zu schauen.
Als sie am Samstagmorgen aufstand, war sie fest entschlossen, am Abend ins Pascha zu gehen.
Aber der feste Vorsatz wurde kleiner und kleiner, je mehr der Tag voranschritt. Sie beschäftigte sich einige Stunden damit, ein paar Seiten für eine Hausarbeit zu schreiben, die sie in ein paar Wochen erst abgeben musste. Weil der Text ihr aber überhaupt nicht gefiel, gab sie es schließlich entnervt auf und vertrödelte die restliche Zeit damit, auf dem Bett zu sitzen, Musik zu hören und Löcher in die Luft zu starren. Dabei wuchs die Angst mit jeder Minute, die verstrich, weiter an. Schließlich und nur, um irgendetwas zu tun zu haben, ging sie zum Friseur und ließ sich ihre Haare schneiden.
Gegen sieben Uhr saß sie dann am Abendbrottisch, starrte auf Sigurds protzigen Silberring und überlegte, ob sie Lukas’ Einladung erwähnen sollte. Wenn sie ihm erzählen würde, was die anderen über Lukas und seinen Gefängnisaufenthalt tratschten, dann würde er ihr vermutlich verbieten mitzugehen. Dann hätte sie eine gute Ausrede. Inzwischen war sie kurz davor zu kneifen.
Bevor sie sich entschieden hatte, was sie tun wollte, klingelte es an der Haustür.
Sigurd blickte von seinem Teller mit Risotto auf. »Erwartest du jemanden?«
Kim seufzte. »Das wird Marie sein. Ich gehe heute Abend mit ihr und Sabrina ins Pascha.«
Marie wohnte nur ein paar Straßen von Kim entfernt. Die beiden hatten verabredet, gemeinsam mit dem Bus zur Disco zu fahren.
Über Sigurds Gesicht huschte ein Ausdruck von Missbilligung, als er den Namen »Pascha« hörte. »Du weißt schon, dass sie da Drogen …«
Kim winkte ab. »Klar!« Sie legte ihr Besteck zur Seite und stand auf, um die Tür zu öffnen.
Es war tatsächlich Marie. Sie hatte ihre Haare zu einer imposanten Hochsteckfrisur toupiert, die in Kims Augen aussah, als hätte sie mit den Fingern in eine Steckdose gegriffen. Ihre Augenlider zierte ein dicker, schwalbenschwanzartig auslaufender Lidstrich, den Marie sich ganz offensichtlich bei Amy Winehouse abgeguckt hatte. Eine hautenge Jeans, ein kurzes Top, das ihren Bauchnabel frei ließ, und darüber eine Jacke mit Pelzkragen vervollständigten den melodramatischen Auftritt.
Kim unterdrückte ein Grinsen.
»Du bist ja noch gar nicht fertig!«, protestierte Marie, kaum dass die Tür weit genug geöffnet war, dass ihr Blick auf Kims Jeans und T-Shirt fiel. Bevor Kim irgendetwas erwidern konnte, drängte Marie sich schon an ihr vorbei in die Wohnung. »Immerhin die Haare hast du dir schneiden lassen.« Mitten im Flur blieb sie stehen.
Sigurd war inzwischen ebenfalls vom Tisch aufgestanden und in die Küchentür getreten. »Hallo, Marie«, sagte er. Seine Stimme klang kühl und Kim kannte ihn gut genug, um zu wissen, was er dachte. Marie war innerhalb der letzten zwölf Monate dreimal von zu Hause ausgerissen und hatte sich dann mehrere Tage lang in der fünfzig Kilometer weit entfernten Großstadt herumgetrieben. Einmal hatte die Polizei sie irgendwo aufgelesen und nach Hause bringen müssen. In Sigurds Augen war Marie alles andere als eine passende Samstagabendbegleitung für Kim.
»Hallo, Herr Steinhauer«, grüßte Marie höflich. Dann heftete sie den Blick wieder auf Kim. »Was ist jetzt? Du musst dich ein bisschen beeilen, Süße, Sabrina wartet auf uns.«
Sigurds Miene verfinsterte sich noch ein bisschen mehr, als er Maries kommandierenden und etwas überheblichen Tonfall hörte.
Kim schüttelte leicht den Kopf. »Ich glaube, ich komme doch nicht mit.«
Maries Augen wurden groß. Der Lidstrich am äußersten Augenrand wurde dadurch noch ein bisschen breiter gezogen und sah jetzt noch mehr aus wie ein Schwalbenschwanz, fand Kim. »Im Ernst?« Die Gedanken hinter Maries Stirn fingen ganz offensichtlich an zu rasen. Kim war klar, dass Marie jetzt überlegte, wie sie sich am
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