Schattenfluegel
Kim glaubte nun, ihre wütende Stimme immer noch hören zu können.
Irgendwann fackeln die noch mal das ganze Gebäude ab!
So lebendig klangen Ninas Worte in ihren Ohren, dass sie sich unwillkürlich umdrehte, um zu sehen, ob ihre Schwester nicht hinter ihr stand. Doch natürlich war da niemand. Kims Knie fingen schon wieder an zu zittern. Sie wankte zu einem der Holzklötze und ließ sich darauf sinken. Für einen kurzen Moment glaubte sie sogar, ohnmächtig zu werden. Mit den Armen umklammerte sie fest ihre Knie und legte den Kopf darauf, um ihren Kreislauf zu stabilisieren.
Im nächsten Augenblick jedoch fuhr sie erschrocken hoch.
Draußen auf der Terrasse waren Schritte zu hören. Dann verdunkelte ein Schatten den Eingang.
Das Sonnenlicht blendete Kim, sodass sie nicht erkennen konnte, wer jetzt das Gebäude betrat. Erst als die Gestalt ein paar Schritte auf sie zugemacht hatte, erkannte sie ihn.
»Lukas!« Sie wollte aufspringen und zu ihm laufen, aber der Schwindel war stärker als sie. Ächzend sank sie wieder zurück auf den Klotz.
»Kim!« Mit ein paar schnellen Schritten war er bei ihr und kniete sich neben sie. »Was hast du denn?«
Sie umklammerte erneut ihre Knie, holte tief Luft. »Nur der Kreislauf!«, murmelte sie durch die zusammengebissenen Zähne. »Wird gleich wieder besser.«
»Komm her!« Er schob einen der anderen Holzklötze neben ihren. Dann setzte er sich und legte den Arm um sie. Mit einer Geste, die keinen Widerspruch duldete, zog er sie zu sich heran.
Im ersten Moment wollte sie sich wehren, aber dann gab sie nach und lehnte sich an ihn. Tief sog sie den Geruch seines Rasierwassers ein, dann schloss sie seufzend die Augen.
»Ich habe dich wegrennen sehen«, murmelte er in ihr Haar, sodass sie seinen Atem auf der Kopfhaut spüren konnte. »Ich habe die anderen gefragt, was los ist, aber niemand wusste es so recht. Nur dass Jonas, der Idiot, wieder irgendeinen blöden Spruch gemacht hat, hat Sabrina mir erzählt. Und als du dann in der großen Pause nicht bei Ernie aufgetaucht bist, habe ich angefangen, mir Sorgen zu machen.«
Kims Herzschlag raste noch immer. Inzwischen allerdings nicht mehr vor Angst, sondern weil Lukas ihr so nahe war.
»Dann bin ich los, um dich zu suchen. Sabrina hat gesagt, dass du früher oft mit Nina hier gewesen bist und wegen all der Dinge, die passiert sind … na ja, da dachte ich, ich versuche es mal hier.«
Kim blickte auf, aber sie konnte nicht erkennen, was in seinem Kopf vorging. Also machte sie sich los und rückte ein Stück von ihm ab. Schweigend musterte sie ihn. »Du hast mich gesucht.« Die Prellung in seinem Gesicht war nicht mehr blau, sondern schimmerte jetzt leicht grünlich.
Er nickte. Seine Augen wirkten ernst. Kim war sich sicher, dass ihn irgendetwas sehr beschäftigte. Sie spürte, wie sie schon wieder anfing zu zittern. Angstvoll wartete sie, was nun kommen würde.
»Ich bin hier, weil ich dir etwas erzählen muss. Ich wollte es dir schon gestern sagen, aber ich habe mich nicht getraut.«
Als sie hörte, wie er das mit ernster, leiser Stimme sagte, da wusste sie, dass etwas Schlimmes folgen würde. Sie legte eine Hand auf den Mund und starrte ihn aus großen Augen an.
»Es hat mit Nina zu tun«, fügte er dann hinzu und Kim wimmerte leise.
Sie wollte es nicht hören!
»Ich war Ninas Fr…«
»Nein!«, rief Kim. Sie sprang auf, wollte weglaufen, aber ihr Kreislauf streikte. Sie taumelte, ihre Knie gaben nach.
Lukas war sofort wieder bei ihr. Er hielt sie fest und in dem verzweifelten Versuch, nicht zusammenzubrechen, krallte sie sich in sein T-Shirt. Sie zerrte so heftig daran, dass der Ausschnitt nach unten rutschte.
In diesem Moment sah sie es.
Gelbe Augen starrten sie an. Eine spitze Schnauze, graues Fell.
Ein Wolf. Lukas trug auf der rechten Brustseite ein kleines Wolfstattoo!
Mit einem panischen Aufschrei wich Kim zurück. Sie stolperte über den Holzklotz, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Lukas wollte sie auffangen, aber sie wich ihm aus, schrie erneut. Mühsam gelang es ihr, auf den Beinen zu bleiben.
Er!
Die wolfsgelben Augen. Er war …
… Ninas geheimnisvoller Freund!
Ich bin hier, weil ich dir etwas erzählen muss, hatte er gesagt.
Ihr Gehirn versagte. Alles um sie herum wurde grau und konturlos. »Lass mich!«, schrie sie ihn an.
»Kim, ich wollte es dir eben …« Er setzte nach, wollte nach ihr greifen, aber sie wich ihm erneut aus. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, als habe sie ihn
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