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Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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jemandem sprach.
    »Ja«, sagte er gerade. »Offenbar.« Dann schwieg er einen Moment, hörte nur zu. »Kim hat es mir erzählt. Sie glaubt, Lukas ist der unbekannte Freund, von dem Nina damals in ihrem Tagebuch schrieb. – Nein. Ich weiß nicht genau. – Sie sagte etwas von einem Wolfstattoo, das er trägt.« Er sah Kim an, lauschte. »Ich weiß nicht. Es geht ihr nicht besonders gut. Ich denke, sie wird sich gleich erst mal ein bisschen hinlegen. – Ja, natürlich. Ich sage es ihr.« Dann verabschiedete er sich und legte auf.
    Kim starrte ihn an, unfähig, aufzustehen oder etwas zu sagen. Sie strich sich die wirren Haare aus den Augen, aber sie fielen sofort wieder an die alte Stelle zurück. Die Spitzen fühlten sich feucht an und erst jetzt bemerkte Kim, dass ihr Tränen über das Gesicht strömten wie Regen. »Wer war das?«, murmelte sie kraftlos.
    »Frau Keller von der Polizei. Ich habe ihr von deiner Entdeckung erzählt.«
    Ein scharfer Schmerz durchfuhr Kim, als sie das hörte. Wieder fühlte sie sich wie eine Verräterin. Trotzdem nickte sie und murmelte: »Gut«.
    »Sie wollen mit dir sprechen. Ich habe gesagt, heute Nachmittag. Jetzt solltest du dich erst ein bisschen ausruhen.«
    In jeder anderen Situation hätte Kim sich dagegen gewehrt, mitten am Tag ins Bett geschickt zu werden wie ein kleines Kind. Jetzt jedoch stemmte sie sich gehorsam in die Höhe. »Gute Idee«, murmelte sie.
    Sie fühlte sich vollkommen zerschlagen. Am Ende. Sie wusste nicht, was sie denken, und noch viel weniger, was sie fühlen sollte.
    Nina.
    Marie.
    Lukas!
    In ihr fühlte sich alles ganz furchtbar wund an. Mit müden Schritten trat sie auf den Flur hinaus und suchte Halt am Treppengeländer.
    »Soll ich dir einen Tee raufbringen?«, fragte Sigurd hinter ihr her.
    »Ja, bitte.« Schwerfällig schlurfte Kim die Treppe hinauf.
    Die weißen Wände in ihrem Zimmer wirkten wie Eisberge. Eisberge, die auf sie zusteuerten. Sie würde mit ihnen kollidieren, dachte sie, während sie auf ihr Bett sank und die Schuhe von den Füßen streifte. Sie musste aufpassen, dass sie nicht zermalmt wurde.
    Dann ließ sie sich nach hinten fallen. Ihr Blick fiel auf das Regal über ihrem Kopf. Ninas Tagebuch stand ein Stückchen vor und sie konnte den roten Einband erkennen.
    Töte mich zärtlich, Liebster!
    Jetzt endlich ergab das alles einen Sinn und trotzdem sträubte sich noch immer etwas in ihr zu glauben, dass Lukas ein Mörder war. Ihr sanfter Lukas. Der Lukas, der sie geküsst hatte. Der den Ohrring herausgenommen hatte, weil er ihren Schrecken bemerkt hatte. Lukas, der wie ein geprügelter Hund aussah, wenn sie ihn zurückwies.
    Kim schloss die Augen. Hinter ihren Lidern tanzten rote Funken.
    Ihre Wangen fühlten sich kalt an.
    Leise wurde die Zimmertür geöffnet und Sigurd kam herein. Kim machte die Augen nicht auf, aber sie hörte, wie er eine Tasse auf den Nachttisch stellte.
    »Ich habe eine Schlaftablette dazugetan«, sagte er.
    »Du bist gegen Schlafmittel«, murmelte Kim.
    »Ich denke, in diesem Fall können wir mal eine Ausnahme machen.« Sigurd strich ihr über den Arm. Sie wünschte sich, er würde sie über Stirn und Wangen streicheln, so wie er es früher getan hatte, wenn er sie ins Bett gebracht hatte. Aber sie war kein kleines Kind mehr. In ihrer Welt gab es jetzt Tod und Gewalt.
    Und Zweifel.
    »Danke«, sagte sie.
    »Nimm das Mittel ruhig!« Er ging zur Tür. Ebenso leise, wie er sie geöffnet hatte, schloss er sie wieder hinter sich und Kim war allein.
    Sie brauchte das Schlafmittel nicht, sondern schlief von ganz allein ein. Es war, als suche ihr Körper einen Ausweg aus all dem Furchtbaren, das an diesem Tag passiert war.
    Schlaf. Der kleine Bruder des Todes, dachte sie, kurz bevor sie davonglitt. Eine Strophe von einem alten Lied von Reinhard Mey erklang in ihrem Kopf, ein paar Zeilen nur …
    Alles ist gut.
Für kurze Zeit erlöst die Nacht
den Kranken von seinem Leid.
Alles ist gut.
Und schließt die Augen dem Betrübten
über alle Traurigkeit …
    Alles ist gut. Sie summte die Melodie, bis die Dunkelheit sie umschloss.
    Sie erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Der Tee auf ihrem Nachtschrank war natürlich längst kalt geworden. Eine schillernde Haut hatte sich darauf gebildet und sah sehr eklig aus.
    Langsam setzte Kim sich auf. Irgendetwas hatte sie geweckt, aber sie wusste nicht, was es gewesen war. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, die Sonne stand schon tief über den Dächern der Nachbarhäuser und

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