Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenfluegel

Schattenfluegel

Titel: Schattenfluegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
später die Haustür öffnete und sie in sein bleiches Gesicht blickte.
    »Setz dich!«, bat er sie tonlos, nachdem sie gemeinsam in die Küche gegangen waren.
    »Was ist?« Ihre eigene Stimme kam ihr fremd vor, sie klang hoch und schrill. Der Boden unter ihren Füßen schwankte. »Was ist mit Marie?«
    Statt einer Antwort packte Sigurd sie an den Schultern und schob sie zum Küchentisch. Sanft aber unnachgiebig drückte er sie auf einen Stuhl, dann setzte er sich ihr gegenüber. Seine Hände umklammerten die Tischkante und seine Fingerknöchel waren schneeweiß.
    »Sie haben Marie gefunden, Kim.« Er wiederholte, was er schon am Telefon gesagt hatte. Und jetzt, da Kim ihm dabei ins Gesicht schauen konnte, wusste sie, was das bedeutete.
    Sie stopfte sich eine Faust in den Mund und biss darauf. »Nein!«, flüsterte sie.
    Sigurd nickte. »Sie ist tot.«
    Kims Arm sank herunter. Seltsamerweise verursachten Sigurds Worte diesmal keinen Schwindelanfall bei ihr. Ganz im Gegenteil. Auf einmal war ihr Verstand glasklar. Sie sah Marie vor sich, wie sie am Samstagabend hier im Flur gestanden hatte. Die ausgeflippten, freizügigen Klamotten, die stark geschminkten Augen. Kim hatte es gewusst, von Anfang an. Sie hatte es gesagt, aber niemand hatte ihr geglaubt. Für verrückt hatten sie sie alle erklärt.
    »Sie wurde ermordet, Kleines. Genau wie Nina.«
    Kim presste beide Hände auf die Ohren, aber sie konnte seine Stimme trotzdem hören. Sigurd sprach jetzt sehr schnell. »Sie hatte eine Libelle in der Hand. Ganz zerdrückt. Es sieht wohl so aus, als habe sie sich gewehrt.«
    Hör auf!, schrie es in Kim. Ich will das alles nicht hören! Ohne die Hände herunterzunehmen, schüttelte sie den Kopf. Wieder und wieder. Und dann, als Sigurd verstummte und sie aus großen, traurigen Augen ansah, hörte sie ihre eigene Stimme, die fragte: »Da ist noch etwas, oder?« Sie wusste es. Sigurd hatte ihr noch nicht alles erzählt.
    Seufzend holte er Luft.
    »Die Polizei sagt …«, er zögerte. Dann seufzte er noch einmal. »… Sie starb am Samstagabend, Kim. Kurz bevor Lukas hier bei uns im Garten aufgetaucht ist.«
    Es dauerte eine Weile, bis Kim wieder in der Lage war, in irgendeiner Form zu reagieren. Zunächst war sie für einige Zeit wie gelähmt. Die gläserne Klarheit in ihrem Kopf blieb, aber der Rest ihres Körpers fühlte sich an, als bewege sie sich durch eisiges Wasser. Ihre Bewegungen waren langsam, ohne Kraft. Schwerfällig.
    Mit müder Stimme erzählte sie Sigurd, was sie eben im Waldschlösschen über Lukas herausgefunden hatte.
    Wenn er zuvor blass gewesen war, so wurde er jetzt weiß wie eine Wand. »Lukas war Ninas unbekannter Freund? Dann gab es ihn also doch?«
    Das Wolfstattoo mit den gelben Augen brannte hinter Kims Lidern, sobald sie für einen Moment die Augen schloss. Sie umschlang ihren Oberkörper und rieb sich die Oberarme. Ihr war eiskalt. »Sieht so aus«, murmelte sie.
    Ohne zu wissen, warum, fühlte sie sich von Lukas verraten.
    Es sprach so vieles dafür, dass er es gewesen war, der Nina umgebracht hatte. Und der jetzt Marie … Kim konnte den Gedanken nicht zu Ende denken.
    Sie krümmte sich.
    Sigurd wollte sie stützen. In seinen Augen stand Besorgnis. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, wehrte es aber ab, von ihm festgehalten zu werden. Sie konnte jetzt einfach keine Berührung ertragen, von niemandem. Johanna!, dachte sie, aber ihre Mutter war nicht da.
    Als sie vorhin vor Lukas weggelaufen war, hatte sie sich vorstellen können, dass er Nina getötet hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nicht gewusst, dass auch Marie tot war. Jetzt, da sie es wusste und Sigurd ihr gesagt hatte, zu welchem Zeitpunkt sie gestorben war, gab es doch kaum noch Zweifel daran, dass Lukas … beide … ermordet hatte.
    Und trotzdem …
    Kim schloss die Augen, rief sich Lukas’ Gesicht ins Gedächtnis. Die liebevolle Art und Weise, wie er seine Mutter angesehen hatte. Wie er auch sie angesehen hatte …
    Ich kann es beherrschen, hatte er Kim an jenem Abend zugeflüstert und damit die Aggressivität gemeint, die er glaubte, von seinem Vater geerbt zu haben.
    Was, wenn er sich täuschte?
    Was, wenn es etwas in ihm gab, etwas Finsteres, das er nicht beherrschen konnte?
    Der Druck auf Kims Brust steigerte sich, bis es kaum noch auszuhalten war. Sie hatte das Gefühl, zu einem kleinen, harten Klumpen zusammengepresst zu werden. Sie keuchte auf.
    Am Rande nur bekam sie mit, dass Sigurd zum Telefon gegriffen hatte und mit

Weitere Kostenlose Bücher