Schattenfluegel
geohrfeigt.
»Fass mich nicht an!« Sie wirbelte herum.
Und dann rannte sie.
Hinaus aus dem Haus. Über die Terrasse.
Hinein in den Wald.
Lukas blieb, wo er war.
Er folgte ihr nicht.
Kapitel 15
Er war Ninas geheimnisvoller Freund! Er!
Alles in ihr schrie von Schmerz und es fühlte sich an, als habe er ihr mit diesem einen Satz das Herz herausgerissen. Sie rannte den Pfad zurück, den sie gekommen war, aber der Waldrand kam einfach nicht in Sicht. Sie musste irgendwo falsch abgebogen sein. Tiefer und tiefer geriet sie in das Dickicht hinein, bis sie schließlich überhaupt nicht mehr wusste, wo sie war.
Es war ihr egal.
Schluchzend und zitternd blieb sie stehen und lehnte sich an einen Baumstamm.
Lukas war also derjenige, den Nina in ihrem Gedicht beschrieben hatte. Die kholenschwarzen Augen! Warum war sie nicht früher darauf gekommen? Sie hatte gedacht, Nina habe das Wort einfach nur falsch geschrieben: kholenschwarz statt kohlenschwarz. Aber Khol war eine Bezeichnung für besonders dunklen Kajal. Die Schreibweise war ein Hinweis gewesen: Nina hatte Lukas’ dichte Wimpern beschrieben. Kim rieb sich die schmerzenden Schläfen. Hatte sie nicht selbst am Anfang gedacht, Lukas würde sich einen Kajalstrich ziehen? Warum nur hatte sie die Verbindung nicht erkannt?
Sie war so ein Idiot!
Lukas hatte sie um den Finger gewickelt. Mit seiner sanften, sensiblen Art hatte er sich in ihr Herz geschlichen. Wozu?
Was wollte er …
Ein einziger Gedanke nahm Kim den Atem. Der einzige entscheidende Gedanke:
Hatte er Nina ermordet? Und wollte er auch sie umbringen?
Ein Ast knackte im Unterholz und panisch fuhr Kim in die Höhe. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um, aber es blieb ruhig.
Lukas war ihr nicht gefolgt.
Der Specht, den sie vorhin schon gehört hatte, war jetzt ein ganzes Stück näher gekommen. Sein Klopfen klang einsam in der Stille des Waldes.
Lukas. Ninas Mörder.
Es fühlte sich nicht richtig an, das zu denken.
Die zwei Jahre fielen Kim wieder ein, die Lukas nicht in der Schule gewesen war. Angeblich, weil er sich um seine Mutter gekümmert hatte. Aber vor genau zwei Jahren war Nina ermordet worden.
Was, wenn er es tatsächlich getan hatte?
Wenn er sich danach vor der Polizei versteckt hatte und deshalb nicht mehr in die Schule gekommen war. Vielleicht hatte er gedacht, es sei das Beste, eine Weile ganz von der Bildfläche zu verschwinden. Aber warum kam er dann jetzt wieder zum Vorschein? Und warum kümmerte er sich so intensiv um sie, Kim?
Kim umschlang sich mit ihren Armen und rutschte an dem Baumstamm nach unten. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.
Lukas war kein Mörder. Das sagte ihr zumindest ihr Herz. Oder war es jetzt besser, auf den Kopf zu hören?
Er war Ninas Freund gewesen. Es gab keine andere Erklärung für die gelben Augen und den Wolf in Ninas Gedicht.
Ich bin hier, weil ich dir etwas erzählen muss, hatte Lukas zu Kim gesagt. Er hatte ihr freiwillig davon erzählt. Wenn er Nina wirklich ermordet hatte, ergab das doch keinen Sinn! Wieso sollte er Kim extra auf seine Fährte locken?
Kim schluchzte auf. Das Weinen schüttelte sie so stark, dass sie beinahe das Klingeln ihres Handys überhört hätte. Rasch zog sie es aus der Tasche.
Es war Sigurd. Im ersten Moment wollte sie nicht rangehen, wollte mit ihrer Angst, ihrem Schmerz und dem Entsetzen allein sein. Aber dann entschied sie sich doch anders.
Sie nahm ab und drückte den Hörer ans Ohr. »Ja?«
»Kim? Gott sei Dank!« Auch Sigurd klang erschrocken und gehetzt. Kim brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er ja von ihrer eben gemachten Entdeckung nichts wissen konnte.
Sie richtete sich auf. »Was ist?« Schon wieder stieg die Panik in ihr hoch. Sie strich sich die wirren Haare aus der Stirn, rieb die Tränen von den Wangen.
»Ich habe eben einen Anruf von der Polizei bekommen.« Sigurd sprach hastig. »Es ging um Marie.« Er verstummte und die Stille in der Leitung kreischte in Kims Ohren.
Plötzlich war ihr Mund ganz trocken. »Was ist mit ihr?«
»Sie haben sie gefunden, Kim.« Sigurd sprach jetzt sehr leise. Kim konnte ihn kaum verstehen. »Du solltest so schnell wie möglich nach Hause kommen.«
Später wusste sie nicht mehr, wie sie den Weg nach Hause gefunden hatte. Kurz bevor sie den Waldrand erreichte, trat sie in eine Senke und knickte mit dem Knöchel um. Aber der Schmerz in ihrem Gelenk war nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der sich in ihr Herz bohrte, als Sigurd ihr wenige Minuten
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