Schattenfluegel
Waldschlösschen, jenem leer stehenden Ausflugslokal, in dem Kim und Nina früher so gern gespielt hatten – und in dem Ninas Leiche gefunden worden war.
Hatten ihre Füße sie unbewusst hierhergetragen? Aber warum? Hoffte sie insgeheim, hier, an diesem alten Tatort, einen Hinweis auf Maries Verbleib zu finden?
Sie zögerte.
Aber dann gab sie sich selbst einen Ruck.
Sie verließ den geteerten Bürgersteig und betrat den schmalen Weg, der tiefer in den Wald hineinführte. Sonnenflecken sprenkelten den Boden und die Blätter und Äste warfen flirrende Schatten. Kim ging den Pfad entlang, der sich in mehreren Windungen um eine Tannenschonung zog und dahinter einen kleinen Hügel emporführte.
Oben angekommen stand sie direkt vor der Ruine. Allerdings war das Wort »Ruine« ein wenig übertrieben für ein Gebäude, das erst seit zwei Jahrzehnten leer stand. Die Ausflugsterrasse, auf der man früher Kaffee trinken konnte, lag jetzt verlassen da und Moos und Unkraut hatten die Waschbetonplatten längst erobert. Sämtliche Fenster des Gebäudes waren eingeschlagen. Die Scherben lagen überall herum und glänzten im Sonnenlicht. Die große Eingangstür hing schief in den Angeln und gab den Weg ins Innere frei.
Mit klopfendem Herzen blieb Kim vor dem Gebäude stehen. Seit Ninas Tod war sie nicht mehr hier gewesen. Angst legte sich um ihren Brustkorb wie ein schwerer Eisenring. Es kam ihr vor, als wäre die Ruine voller Geister, die aus den leeren Fensteröffnungen auf sie herunterstarrten und ihr lautlose Flüche entgegenschleuderten.
Am liebsten hätte sie sofort kehrtgemacht und wäre so schnell wie möglich zurückgelaufen. In die Schule. Nach Hause. Egal wohin. Nur weg von hier, weg von dem Ort, wo die Erinnerungen an ihre tote Schwester so schonungslos über sie herfallen konnten.
Sie sah sich mit Nina auf den Stufen der Ausflugsterrasse sitzen und Wassereis lutschen, das sie sich am Kiosk neben der Schule gekauft hatten. Sie redeten über all ihre großen und kleinen Geheimnisse und kicherten über die rote und blaue Lebensmittelfarbe, die ihre Lippen und Zungen färbte.
Dann sah Kim sich mit Nina während eines Herbstregens drinnen in dem alten Clubzimmer sitzen, wo sie es sich unter einem verstaubten Hirschgeweih gemütlich gemacht hatten und ganze Ferientage mit Lesen und Quatschen verbrachten.
Und sie sah sich und ihre Schwester durch die Keller des Hauses streifen, mit einer ordentlichen Gänsehaut wegen all der Spinnen und Mäuse, die hier unten hausten.
In einem dieser Kellerräume hatte man Ninas Leiche gefunden …
Der Gedanke schnitt sich wie ein Messer durch ihre Erinnerungen und Kim holte zitternd Luft. Was wohl Dr. Schinzel dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass sie jetzt hier war?
Es ist an der Zeit, Nina loszulassen, hatte er ihr erklärt.
Bestimmt hatte er recht.
Fröstelnd schlang sie die Arme um sich, dann stieg sie langsam die Stufen zur Ausflugsterrasse hinauf. Ein Zeisig zwitscherte in den Bäumen und irgendwo weiter entfernt klopfte ein Specht, sonst war es still. Kim konnte ihren eigenen Atem hören, als sie die Terrasse überquerte und vor der Eingangstür stehen blieb.
Die Gänsehaut auf Nacken und Unterarmen fühlte sich diesmal nicht so angenehm gruselig an wie damals im Keller wegen der Spinnen. Trotzdem hob Kim einen Fuß und stieg über die Schwelle ins Innere der Ruine.
Der ehemalige Restaurantbereich war mit einem Schachbrettmuster aus roten und schwarzen Fliesen ausgelegt. Die Tapete an den Wänden hatte früher einen dunklen Grünton gehabt, aber jetzt hing sie verblichen und in Fetzen von den Wänden. Der Wind strich um die Zacken der zerbrochenen Fensterscheiben und verursachte dabei ein leises Flüstern.
Kim musste sich räuspern.
Das Geräusch klang laut in der unheimlichen Stille. Viel zu laut. Irgendwo quiekte etwas. Kim zuckte zusammen. Eine Maus.
Nur eine Maus!
Sie machte ein paar Schritte in den Raum hinein.
In einer Ecke lagen zerbrochene Bierflaschen, Zigarettenschachteln und eine alte, verrostete Grillzange. Die Fliesen waren an dieser Stelle schwarz verkohlt und ein Haufen Asche zeigte, dass hier irgendein Idiot ein Feuer angezündet hatte. Rundherum hatte man ein halbes Dutzend Holzklötze als Sitzgelegenheiten aufgestellt.
Nachdem das Ausflugslokal geschlossen worden war, hatten Jugendliche es erobert und alle möglichen Penner hatten angefangen, es als Rückzugsmöglichkeit zu nutzen. Nina hatte sich über die Feuer immer ziemlich aufgeregt und
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